Nur wenn du mich hältst (German Edition)
1. KAPITEL
La Guardia Flughafen
Terminal C
Gate 21
Die dunkle Brille verbarg nichts, jedenfalls nicht wirklich. Wenn Leute an einem wolkenverhangenen Tag mitten im Winter jemanden mit Sonnenbrille sehen, nehmen sie an, sein Träger oder seine Trägerin wolle verbergen, dass er oder sie getrunken, geweint oder sich geprügelt hat.
Oder alles zusammen.
Unter normalen Umständen genoss Kimberly van Dorn es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Am vergangenen Abend hatte sie aus genau diesem Grund das Haute-Couture-Kleid mit dem skandalösen Schlitz an der Seite ausgewählt – um den Leuten den Kopf zu verdrehen – und hatte keine Ahnung gehabt, dass die Nacht katastrophal enden würde. Wie hätte sie das auch vorhersehen sollen?
Jetzt, bei der Landung nach einem zermürbenden Nachtflug, bei der Fahrt zum Gate und danach würde sie die Sonnenbrille aufbehalten.
Touristenklasse. Sie flog niemals Touristenklasse. Die erste Klasse war jedoch ausgebucht gewesen, und persönliche Bequemlichkeit hatte der Zweckdienlichkeit den Vortritt lassen müssen. So hatte sie sich auf Sitz 29-E in der Mitte des Fliegers wiedergefunden, eingequetscht zwischen zwei Fremden. Manchmal war der Drang zu fliehen eben mächtiger als das Bedürfnis nach Beinfreiheit. Obwohl ihre steifen Glieder dem im Moment vermutlich widersprechen würden.
Wer zum Teufel hatte überhaupt die Economyclass erfunden? Kimberly war überzeugt, den Abdruck des Ohrs ihres Sitznachbarn auf ihrer Schulter zu haben. Nach seinem vierten Bier war er immer wieder eingeschlafen, wobei sein Kopf in ihre Richtung rollte. Was war schlimmer als ein Mann mit einem schlaff herunterhängenden Kopf?
Ein Mann mit herunterhängendem Kopf und Bier-Atem, dachte sie grimmig. Sie versuchte, die quälenden Strapazen des Transkontinentalflugs abzuschütteln, doch die Erinnerung hing ihr nach wie der Schmerz in ihren Beinen – ein schlaffer, schnarchender Kerl auf der einen und ein unglaublich gesprächiger älterer Gentleman auf der anderen Seite, der stundenlang von seinen Schlafstörungen geredet hatte. Und über eine Schleimbeutelentzündung und seinen lausigen Schwiegersohn, seine Vorliebe für gebratene Süßkartoffeln und seine Abneigung gegen den Jude-Law-Film, den sie sehen zu wollen vorgab, weil sie hoffte, ihn damit zum Schweigen zu bringen.
Kein Wunder, dass sie nie Economy flog. Doch der Albtraumflug war nicht das Schlimmste, was ihr in letzter Zeit passiert war. Bei Weitem nicht.
Nun stand sie im Gang und wartete darauf, dass die Passagiere der achtundzwanzig Reihen vor ihr das Flugzeug verließen. Der Prozess schien sich endlos hinzuziehen. Die Leute kramten in den Gepäckablagen herum, suchten ihre Sachen zusammen und sprachen währenddessen in ihre Handys.
Sie holte ihres ebenfalls heraus und ließ den Daumen über der Einschalttaste schweben. Eigentlich sollte sie ihre Mutter anrufen, sie wissen lassen, dass sie nach Hause kam. Nicht jetzt, dachte sie und steckte es wieder weg. Sie war zu erschöpft, um in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Außerdem könnte es gut sein, dass ihr Handy mit einer Ortsbestimmungsapp versehen war, und sie hatte keine Lust, aufgespürt zu werden.
Nun, da sie angekommen war, war sie nicht mehr in Eile. Tatsächlich fühlte sie sich vollkommen unzulänglich darauf vorbereitet, sich einem düsteren Wintermorgen in New York zu stellen. Sie ignorierte die Blicke der anderen Passagiere und versuchte so zu tun, als wäre es normal, in Abendrobe zu reisen. Vielleicht hatte sie ja Glück, und sie hielten sie für das Opfer verloren gegangenen Gepäcks.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Während sie sich schrittweise durch den schmalen Gang nach vorne arbeitete, fühlte sie sich definitiv als Opfer, und zwar auf mehr als eine Weise.
Dabei zog sie eine Spur aus Pailletten hinter sich her. Es gab einen Grund, weshalb Kreationen wie diese als Abendgarderobe bezeichnet wurden. Das mit glitzerndem Flitter bestickte Kleid aus Seidencharmeuse sollte im romantischen Halbdunkel eines von Kerzenlicht ausgeleuchteten Privatclubs getragen werden oder in einem mit Fackeln beleuchteten Garten in Südkalifornien. Nur nicht im hellen, erbarmungslosen Tageslicht eines Samstagmorgens.
Es ist lustig, dachte sie, dass im Morgenlicht selbst ein Designerkleid von Shantung am Rodeo Drive billig aussieht. Vor allem, wenn es einen taillenhohen Schlitz an der Seite hatte und man dazu nackte Beine und Peep-Toe-Stilettos trug. Am vergangenen Abend
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