Nur wenn du mich hältst (German Edition)
Schultern. „Eigentlich ist sie ganz okay, glaube ich.“ Er dachte an Mrs Jackson und daran, wie stolz er gewesen war, unter den Besten in der Lesegruppe zu sein, auch wenn das bedeutet hatte, schwerere Bücher lesen zu müssen. Und er mochte Mrs Alvarez, die Hilfslehrerin, die die meiste Zeit Spanisch sprach, weil die überwiegende Anzahl der Kinder in der Klasse Latinos waren. Seine Schule in Texas mit den offenen Wandelgängen und den von der Sonne erhitzten Spielplätzen war ganz anders als das schneebedeckte Betongebäude in Avalon, das mit lauter verdächtig aussehenden weißen Schülern bevölkert war.
„Dir graut davor, der Neue zu sein“, sagte Kim und traf damit den Nagel auf den Kopf.
Er nickte.
„Kann ich dir irgendwie helfen? Schau mich nicht so an, AJ.“
„Wie denn?“, fragte er, dabei wusste er es. Er hatte die Augen zusammengekniffen und überlegt, wieso sie sich überhaupt für ihn interessierte.
„So als würde ich mein Interesse nur vorheucheln. Das tue ich nicht. Ich will wirklich wissen, ob ich dir helfen kann. Für mich ist das auch alles neu, weißt du …“
„Was ist neu?“
„Na, einen Freund in deinem Alter zu haben. Ich mag dich, und ich will nicht, dass man dir wehtut. Also sag mir, was ich tun kann.“
Ihre Worte überraschten ihn. Außerdem wurde sie richtig emotional, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Es gab nur eine Person auf der Welt, auf die er zählen konnte, und das war seine Mutter. Doch die war nicht da. Dennoch stand jetzt hier vor ihm eine Fremde, die anscheinend nichts anderes wollte, als nett zu ihm zu sein. Ein Teil von ihm wollte zusammenbrechen und heulen, aber das würde er vor ihr niemals tun. Oder vor sonst jemandem.
„AJ?“, hakte sie sanft nach.
Er atmete tief durch und härtete sich innerlich ab. „Nein, da gibt es nichts. Es wird einfach doof sein. Alles ist doof.“
Wieder versuchte sie nicht, fröhlich darüber hinwegzugehen. Sie berührte ihn an der Schulter und drückte ganz leicht zu.
„Das Gefühl kenne ich.“
12. KAPITEL
„Ich gehe nicht.“ AJ funkelte Bo durch die im Dunkeln liegende Küche von Fairfield House an.
Bo biss die Zähne zusammen und schwor sich, das nicht in einen Streit ausarten zu lassen. Sie waren die Ersten, die an diesem eiskalten Montagmorgen aufgestanden waren. Es hatte die ganze Nacht über geschneit, aber laut Wetterbericht im Radio bestand keine Chance, dass es schneefrei gab. Die Stadt war gut vorbereitet, und die Schneepflüge waren bereits unterwegs, um die Straßen zu räumen.
„Doch, das wirst du.“ Bo stützte sich mit beiden Händen auf der Arbeitsfläche ab und versuchte, die Kaffeemaschine durch Gedankenkraft dazu zu veranlassen, den Kaffee schneller zu brühen. Er hatte seit Jahren nicht mehr zu Schulzeiten hochgemusst und völlig vergessen, wie brutal dieses frühe Aufstehen war.
„Ich werde nicht gehen – und du kannst mich nicht zwingen.“
Tropf, tropf, tropf . Er hatte nicht mit offenem Widerstand gerechnet und war dementsprechend nicht darauf vorbereitet. Die Worte klangen erstaunlich einschüchternd, vor allem, weil sie von einem Kind kamen. Du kannst mich nicht zwingen . Er hatte auf dem Baseballplatz alle möglichen Neckereien und Lästereien ertragen, doch niemand hatte ihn jemals so getroffen wie AJ. Das lag daran, dass es bei all dem Gerede auf dem Platz schließlich nur ein Spiel war, dies war keins.
Er warf AJ über die Schulter einen Blick zu, schätzte ihn kurz ein, so wie er einen neuen Hitter frisch aus dem Bunker einschätzen würde. Das Gesicht des Jungen war starr und wirkte streitlustig.
„Ich hasse es, das sagen zu müssen, Kumpel“, sagte er in ruhigem, vernünftigem Tonfall, „aber ich kann dich zwingen. Also gewöhnst du dich besser gleich an die Vorstellung.“ Endlich war der Kaffee durchgelaufen, und er füllte seinen Becher. Zwei Schlucke später fühlte er sich beinahe wieder wie ein Mensch. „Sieh mal, wir haben darüber gesprochen. Wir kommen nicht drum herum. Du musst zur Schule gehen, so wie jedes andere Kind auch.“
„Ich bin aber nicht wie jedes andere Kind“, sagte AJ ruhig, dennoch trotzig. „Wen interessiert es schon, ob ich in die Schule gehe oder nicht?“
„Mich interessiert’s.“ Er merkte, dass er ein wenig gereizt klang. Das lag mit Sicherheit daran, dass er gereizt war. Er schenkte AJ ein Glas Orangensaft ein und reichte es ihm. „Und du gehst in die Schule. Es muss dir nicht gefallen – und das wird es
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