Nur Wenn Du Mich Liebst
passiert ist, und das weißt du auch. Die Wahrheit ist, dass es, selbst wenn etwas passiert
wäre
, vollkommen irrelevant ist. Die Wahrheit ist, dass die Tatsache, dass man homosexuell ist, einen nicht zu einem Kinderschänder macht. Die meisten Kinderschänder sind vielmehr hetero. Völlig verkorkst«, fuhr sie fort und senkte die Stimme wie immer, wenn sie sehr erregt war, »aber ›normal‹.« Susan trat ans Fenster und starrte auf die feinen Schneeflocken, die auf die Straße rieselten.
»Ich weiß, dass du es nicht verstehst.«
»Was verstehe ich nicht, Vicki? Die Entscheidung der Jury? Da irrst du. Ich verstehe, dass Geschworene Menschen sind. Ich verstehe, dass niemand glauben will, dass ein nettes Mädchen aus gutem Elternhaus ihre Mutter einfach so ohne guten Grund ermordet. Es ist viel leichter, viel beruhigender, die Mutter zu dämonisieren. Und warum auch nicht? Mütter sind in diesem Land beinahe genauso verhasst wie Homosexuelle.« Susan sah Vicki mit klarem Blick direkt an. »Ich glaube, ich verstehe sogar, warum du diesen Fall angenommen hast.«
»Und warum?«, fragte Vicki und wappnete sich gegen einen Schwall neuer Vorwürfe.
»Ob du es glaubst oder nicht, ich glaube
nicht
, dass es dir nur um Ruhm und Reichtum ging. Ich glaube, dass du das getan hast, wovon du ehrlich geglaubt hast, dass Barbara es so gewollt hätte. Und das
wirklich
Komische ist, dass ich in diesem Punkt mit dir einig bin. Ich glaube, Barbara
hätte
gewollt, dass du Tracey trotz allem schützt.«
Das brennende Gefühl in der Mitte ihrer Brust sagte Vicki, dass sie den Atem anhielt. »Dann verstehst du, warum ich tun musste, was ich getan habe?«
»Nein«, erwiderte Susan rasch. »Ich werde das, was du getan hast, nie verstehen.«
»Du meinst Chris«, gestand Vicki ein und rieb sich die Stirn, um ihre Kopfschmerzen zu vertreiben. »Geht es ihr gut?«
»Nun, lass mich überlegen. Wegen der negativen Publicity hat sie ihren Job verloren und musste aus ihrer Wohnung ausziehen. Außerdem ist ihre Beziehung zu Montana wieder auf dem Nullpunkt, und sie kann sich die Hoffnung abschminken, ihre Kinder je wieder zu sehen. Aber, hey, man soll schließlich immer das Positive sehen – eine kaltblütige Psychopathin ist ungeschoren davongekommen. Warum sollte es ihr also nicht gut gehen?«
Vicki schwieg. Was sollte sie auch sagen?
»Das Erstaunliche ist, dass ich glaube, es geht Chris tatsächlich gar nicht so schlecht. Sie wird eine neue Wohnung und einen Job finden. Möglicherweise wird sie im Laufe der Zeit sogar irgendwann die Größe aufbringen, dir zu verzeihen. Du kennst ja Chris, sie ist sehr loyal gegenüber ihren Freundinnen.«
Vicki spürte Susans Worte wie einen Stich in ihr Herz. »Und du? Kannst du mir vergeben? Wir haben so viel zusammen durchgemacht.«
»Ja, das haben wir.«
»Ich liebe dich«, sagte Vicki, und wieder schossen ihr Tränen in die Augen.
»Ich liebe dich auch.«
»Wirst du mir je verzeihen?«
Susan ging zur Tür. »Nie im Leben.«
Vicki war bei ihrem vierten Glas Rotwein, als es klingelte. »Rosa«, rief sie, bevor ihr einfiel, dass die Haushälterin vor mindestens einer Stunde gegangen war. Wie spät war es überhaupt? Sie sah auf ihre Uhr, doch die beiden Zeiger tanzten vor ihren Augen auf dem mit Diamanten besetzten Zifferblatt, sodass sie nicht erkennen konnte, ob es acht oder neun Uhr war. Und wer kam auch – ungeachtet der Uhrzeit – einfach vorbei, ohne vorher anzurufen? Sie erhob sich von dem Stuhl im Esszimmer und stolperte zur Haustür. Wahrscheinlich Jeremy oder eins der Kinder. Wie oft musste sie sie noch daran erinnern, ihren Schlüssel mitzunehmen? Wo waren überhaupt alle?
»Tracey!«, sagte Vicki, als sie die Haustür öffnete, die junge Frau mit den rosigen Wangen draußen stehen sah und einen Schritt zurückmachte, um sie hereinzulassen. Was wollte sie hier?
»Ich hätte vermutlich vorher anrufen sollen.« Tracey schüttelte die feine Schneeschicht von ihren schwarzen Schuhen, machte jedoch keinerlei Anstalten, ihre schwere Lammfelljacke auszuziehen.
»Ist alles in Ordnung?«
»Super«, erwiderte Tracey leichthin und sah sich um. »Störe ich Sie bei irgendwas?«
Vicki winkte beschwipst ab. »Gar nicht. Ich bin offen gestanden ganz allein. Jeremy wird in einer Sitzung festgehalten, und die Kinder sind... irgendwo.« Sie lachte und erinnerte sich vage, dass Josh irgendwas von einem Hockeytraining gemurmelt hatte, und Kirsten war wahrscheinlich in der Bibliothek.
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