Nur Wenn Du Mich Liebst
neun Jahre sind seit Barbaras Tod vergangen, acht Jahre seit dem Prozess, der unser Schicksal ein für alle Mal besiegelt hat. Wir haben ein neues Jahrhundert, ein neues Jahrtausend betreten. Die Jahre sind schneller vergangen, als ich es je für möglich gehalten hätte. So vieles hat sich verändert, auch wenn die Grand Avenue im Wesentlichen die Gleiche geblieben ist, zumindest äußerlich. Ich wohne noch immer hier. Ich bin die Einzige, die noch übrig ist.
Der Film endet, ich drücke automatisch auf den Rückspulknopf und höre die Kassette leise summen wie eine defekte Neonröhre. Wie oft habe ich mir das Video heute schon angesehen? Fünf- oder sechsmal? Vielleicht noch öfter. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie oft ich mir diesen Film im Laufe der Jahre angesehen habe. Es muss hunderte Male gewesen sein, Geburtstage, Jahrestage und zu viele Tage dazwischen. Trotzdem bin ich immer noch nicht bereit, diesen jungen Frauen Lebewohl zu sagen, die ich liebe und bis zu meinem Tod lieben werde. Die Grandes Dames, wiederhole ich stumm, fast wie ein Gebet, als ihre Gesichter ein weiteres Mal den riesigen Bildschirm ausfüllen und ihr Lachen mir das Herz aufgehen lässt. Können seit jenem ersten Nachmittag wirklich dreiundzwanzig Jahre vergangen sein? Ist das möglich? Warum kann ich nicht loslassen?
Es klingelt.
»Mom, die Tür!«, ruft eine Stimme von oben.
»Kannst du aufmachen, Schätzchen?«, frage ich. »Es ist wahrscheinlich sowieso für dich.«
Ich höre Schritte auf der Treppe, die klingen wie von einer Horde Elefanten, obwohl es nur ein 21-jähriges Mädchen ist.
»Sieh nach, wer es ist, bevor du die Tür aufmachst«, rufe ich, doch es ist schon zu spät. Ich höre, wie die Tür geöffnet wird, leise Stimmen wehen in den neu eingerichteten »Medienraum« herüber, der links vom Hausflur abgeht. »Wer ist da, Schätzchen?«, frage ich, als meine Tochter in der Tür auftaucht.
»Jemand für dich«, antwortet sie mit einem leichten Schulterzucken. »Sie sagt, sie kennt dich.«
Ich halte den Film an und sehe die Frauen auf dem Bildschirm erstarren. Mittlerweile bin ich äußerst versiert im Umgang mit einem Videorecorder, was mich selbst ebenso erstaunt wie den Rest meiner Familie. Doch ich bin tatsächlich die Einzige, die weiß, wie man ihn programmiert, um eine Sendung aufzunehmen, während man unterwegs ist oder schläft. Ich weiß sogar, wie man auf einem Programm etwas aufnimmt, während man gleichzeitig ein anderes guckt, und darauf bin ich eigenartig, beinahe beunruhigend stolz. »Hat sie einen Namen genannt?«, frage ich, unwillig, mich von meinem Sofa zu erheben.
Ein weiteres Achselzucken. Ich stehe auf und folge meiner Tochter nach vorne.
Nach einem Nachmittag bei zugezogenen Vorhängen und mit laufender Lüftung vor dem Bildschirm habe ich vergessen, was für ein strahlender Tag es ist, wie warm die Julisonne brennt und wie frisch die Luft draußen ist. Sie strömt mir entgegen, als wollte sie mich umarmen, und wirft mich fast von den Beinen, als ich zur Haustür gehe.
Sie steht in der Tür, das Gesicht halb verdeckt vom Schatten einer Trauerweide vor dem Haus. Sie bringt den Duft frisch geschnittener Blumen mit sich, und ich sehe den Strauß, den sie wie ein Baby im Arm hält. »Hi«, sagt sie schlicht, und mein Herz bleibt stehen.
Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, doch es wollen keine Worte kommen. Was für einen gemeinen Streich spielt meine Phantasie mir, denke ich. Habe ich so lange im Dunkeln gesessen, dass ich schon anfange, Gespenster zu sehen, und nicht mehr zwischen der Realität und dem Unmöglichen unterscheiden kann?
»Mrs. Norman?«, fragt sie und bringt mich zu mir selbst zurück.
»Mom?« Whitney berührt meinen Arm, und ich spüre die Besorgnis in ihren Fingern.
»Sie erinnern sich vermutlich nicht mehr an mich. Ich bin Montana«, sagt sie beinahe so, als wäre sie sich selbst nicht sicher. Ihre Stimme klingt im Gegensatz zu der ihrer Mutter nervös und hauchig, doch ansonsten sind die beiden Frauen fast identisch. Es ist, als wäre Chris von meiner Videokassette geklettert, hätte feste Form angenommen, wäre ums Haus zur Tür gerannt und stünde jetzt vor mir. Es ist, als hätte ich auf einen falschen Knopf gedrückt und die letzten dreiundzwanzig Jahre wundersamerweise gelöscht. »Kann ich reinkommen?«, fragt sie.
Ich trete einen Schritt zurück und bitte sie herein. »Montana«, murmele ich, unfähig, mehr zu sagen.
Sie lächelt und streicht sich
Weitere Kostenlose Bücher