Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
mal hübsch, diese Kanadierin.
»Ist es das, was dich jetzt interessiert?«
»Warum haben sie mich dann nicht längst verhaftet?«
»Ich weiß nicht«, gab Nita zu. »Vielleicht bist du schon verhaftet. Ich denke, sie werden es noch tun. Aber ich habe darum gebeten, mit dir zu reden, und sie ließen es zu. Denn für mich, nicht nur für mich, auch für dich, muß ich es wissen. Von dir und nicht erst im Gericht und in ihren Verhören. Ich muß es aus deinem Mund hören.«
»Du hast darum gebeten, mit mir zu sprechen? Sie haben dich nicht beauftragt?« Überraschung und Erleichterung lagen in seiner Stimme. »Bist du sicher?«
»Ich habe darum gebeten. Niemand hat mich geschickt«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Verstehst du nicht, daß du mir eine ehrliche Antwort schuldig bist? Verstehst du nicht, daß du es mir sagen mußt?«
Theo schwieg.
»Denn nur, wenn du es mir sagst, kann ich vielleicht zu dir stehen. Sogar trotz Vater und Gabi, ich werde es kön nen. Ich weiß nicht, wie, aber du weißt, daß ich dich nicht anlüge. Wenn du mir nah sein willst, diesmal, wenn du es mir sagst, wenn du mir vertraust.«
»Was spielt es noch für eine Rolle«, murmelte Theo. »Nichts ist mehr wichtig. Glaube mir. Nicht, wenn sie das Requiem gefunden haben. Hat Herzl ihnen davon erzählt? Wissen sie es von ihm?«
»Ich weiß nicht. Sie haben es in deinem Büro gefunden. In der Partitur der ›Trojaner‹, diese Partitur in schwarzem Samt, die du geschenkt bekommen hast. Die Mutter dir mitgebracht hat. Die im Glasschrank oben war. Die, deren Bilder du mir gezeigt hast, als ich klein war ...« Ihre Stimme versagte. Sie schluckte mit sichtbarer Mühe.
Theo schwieg.
»Ich frage dich nicht, warum, Theo. Ich frage dich jetzt nicht, warum, ich frage dich nur, ob ja oder nein und auf welche Weise. Das ist, was ich frage. Das Warum verstehe ich von allein. Falls man es überhaupt verstehen kann. Das Warum wird bis später warten.«
»Du verstehst es von allein?! Wie kannst du es von allein verstehen?!« schrie Theo und erhob sich. Es war das dritte Mal, an dem Michael schien, daß er kurz davor war, sich auf sie zu stürzen und sie totzuschlagen. Er stand über ihr und schrie vollkommen unbeherrscht, und an seinem Hals, der so lang war wie der ihre, stachen dicke Adern hervor. »Wie kannst du es verstehen, wo du das ganze Leben lang der Liebling von allen warst. Dir hat man alles gegeben, was du nur ... Du, die du Vaters und Gabis Augapfel warst. Wie kannst du verstehen, was es für mich bedeutet hat, von Herzl und dann von Vater von diesem Requiem zu hören und zu wissen, daß ich es nicht anfassen durfte? Daß es der Schlüssel für den berechtigten Ruhm war. Hörst du? Den berechtigten Ruhm? Das waren Vaters Worte. Nichts, was ich getan habe, mein ganzes Leben, alle Bemühungen, alle Berühmtheit, alle neuen Theorien, all diese phantastischen Symphonien – nichts änderte etwas an der Verachtung, die Vater mir entgegenbrachte. Und diese Bevorzugung von Gabi. Was immer ich auch getan habe, alles, was ich nicht getan habe – von vornherein war alles umsonst. Und da spricht er mit mir über den berechtigten Ruhm. Über das, was Gabi gebührt. Über seine Ernsthaftigkeit als Musiker. Und mir – mir hat er niemals auch nur ein Wort gesagt! Kein Wort! Und beim ersten Mal, als ich mit den New Yorker Philharmonikern auftrat, weißt du noch? Mutter kam al lein. Er konnte den Laden nicht allein lassen! Und nicht einmal ein Anruf kam von ihm danach. Und das kannst du verstehen?! Mit deiner Naivität und mit der netten Familie, die du hartnäckig in deinem Kopf konstruiert hast. Du bist überhaupt ... du bist überhaupt beinahe kitschig!«
Nita saß erstarrt da. Ihre Arme, wie die Arme Michaels, waren auf die Stuhlränder gestützt, gestreckt, als ruhe ihr ganzer Körper auf den Handflächen.
»Nie hat er mir auch nur ein gutes Wort gesagt. Nie etwas über mein Talent. Immer nur Gabi und Gabi und wieder Gabi. Und ich«, seine Stimme erlosch plötzlich, wurde trocken und gleichgültig, »ich wollte so sehr, daß Vater, daß er mich auch ein wenig schätzt.«
Nita rührte sich nicht.
»Nachdem Mutter starb, war keiner mehr in der Familie, der ein gutes Wort für mich gehabt hätte. Herzl hat mir von dem Requiem erzählt, nicht Vater.«
Wieder sah Michael zu seinem großen Staunen, wie ein Mann über fünfzig, ein renommierter Dirigent in Anzug und Krawatte, sich vor seinen Augen in ein dreijähriges Kind verwandelte. Wie er
Weitere Kostenlose Bücher