Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
stattfanden, im Nebentrakt des vierten Stockes stiegen. Und Michael ging ein paar Schritte hinter Theo, der mit eingefallenen Schultern wie ein altes, gleichgültiges Pferd auf das Ende des Flurs zuging. Und sein langsamer und ergebener Gang durch den schmalen Flur war der Grund, daß beide – Michael und Ja'ir – die Möglichkeit, die die ganzen Tage über im Raum schwebte, außer acht ließen, und dar um für ein, zwei Sekunden erstarrten, als Theo sprang und seinen Körper mit unvorstellbarer Flinkheit und Leichtig keit über das Geländer in die schwarze Leere zwischen den Stufen schwang.
Den Schrei, den Michael ausstieß, hörte man im ganzen Gebäude, und Dutzende von Polizisten waren schon im Kellergeschoß, als sie dort eintrafen. Sie machten ihm den Weg frei, damit er mit eigenen Augen den zerschmetterten Körper mit dem gebrochenen Genick sehen konnte.
Wochen vergingen, bis man ihn Nita sehen ließ. In diesen Wochen klopfte Ruth Maschiach täglich an seine Tür, wenn sie das Wohnhaus verließ. Ihr kleines, zerknittertes Gesicht wurde ihm zum kostbarsten Anblick. Sie pflegte täglich ein paar Worte über Nita und Ido zu sagen. Das Kind sah er manchmal aus dem Küchenfenster, wenn die Kinderfrau den Wagen vor sich her schob. Er wagte es nicht, zu dem Jungen zu gehen. Ruth Maschiach hatte ihm klargemacht, daß er Nita erst dann sehen durfte, wenn sie damit einverstanden war.
»Bis jetzt«, sagte sie liebevoll, »darf man in ihrer Anwesenheit nicht einmal Ihren Namen erwähnen. Aber ich glaube«, sagte sie einmal, und Mitleid lag in ihrer Stimme, »wenn der Tag kommt, mit viel Geduld ...« Sie hatte ihren Satz nicht beendet, aber Michael klammerte sich wochenlang an ihn. Bei Tag und bei Nacht.
Anmerkungen
Bar-Mizwa : Akt der Einführung des dreizehnjährigen Jungen in die Glaubensgemeinschaft
Challa: Hefezopf zum Sabbat
Chamsin: trockener, heißer Wüstenwind
Gusch Emunim: religiöse nationale Siedlungsbewegung mit dem Ziel einer radikalen Besiedlung der besetzten Gebiete
Jecke: Spitzname der aus Deutschland stammenden Juden
Jom Kippur : Versöhnungstag am 10. Tischri (September/Okto ber), höchster jüdischer Feiertag
Migrash Harussim: Ein Platz im Zentrum von Jerusalem, an dem sich das Polizeipräsidium befindet
Morendo cantabile : musikalische Vortragsanweisung; verhau chende Art des Spiels, gesangartig, ausdrucksvoll
Moschaw: kooperative landwirtschaftliche Siedlung
Sabre : Bezeichnung für im Land geborene Israelis, wörtl. Über setzung: Kaktusfeige
Schabak: Israelischer Nachrichtendienst
Schiw'a : Sieben Trauertage
Seder: Feier am 14./15. Nisan (März/April) , am Vorabend des Passahfestes , das sieben Tage dauert und zu r Erinnerung an den Auszug Israels aus Ägypten gefeiert wird; der Sederabend ist die größte Familienfeier in Israel
› was unterscheidet diese Nacht von anderen Nächten ‹ : Ein Satz aus der Haggada, des Berichts vom Exodus der Juden aus Ägypten, der am Sederabend vorgelesen wird
› wie Funken hoch emporfliegen ‹ : »... sondern der Mensch er - zeugt nicht selbst das Unheil, wie Funken hoch emporflie gen« (Hiob 5, 7)
(Der Vortrag von Theo van Gelden im 13. Kapitel basiert auf einem Vortrag von Ariel Hirschfeld, der im Juli 1995 im Musik zentrum von Mishkenot Sha'ananim gehalten wurde.)
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