Offene Geheimnisse und andere Enthuellungen
Leben ist wahrhaftig gefährlich genug: Ich führe einen Haushalt, was eine der riskantesten Tätigkeiten überhaupt ist, denn statistisch gesehen passieren die meisten Unfälle nicht im Rennwagen oder beim Gleitschirmfliegen, sondern in den eigenen vier Wänden. Ich könnte mir beim Kartoffelschälen einen Finger abschneiden, beim Kuchenbacken schwere Brandverletzungen zuziehen oder beim Fensterputzen von der Leiter fallen.
Des Weiteren fahre ich mit meinem Auto oft auf Landstraßen, wo ich jederzeit mit einer marodierenden Kuhherde kollidieren kann, oder wo mir nächtens bierselige Bauern auf meiner Spur entgegenkommen. Auch die Gefahr, mit einem Reh zusammenzustoßen, das, von meinen Scheinwerfern geblendet, auf die Straße springt, ist ziemlich hoch.
Mein Beruf verschafft mir ebenfalls ausreichend Nervenkitzel, denn jede Tätigkeit, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielt, trägt das Risiko des Absturzes in sich. Wenn niemand mehr meine Kolumnen und Bücher lesen oder meine Sendungen sehen möchte, dann hätte ich Pech gehabt, und wäre ja auch nicht die Erste, der es so erginge.
Aber die kribbelndste Grenzerfahrung ist und bleibt die Aufzucht von Kindern. Bei keiner Fun-Sportart ist man derart gefährdet wie im Umgang mit dem eigenen Nachwuchs. Kinder sind zu keinem anderen Zweck auf der Welt, als ihre Eltern an die eigenen Grenzen zu führen. Wer Kinder hat, kann sich die Safari zu den wilden Tieren der Serengeti oder die Kanalüberquerung auf einem Baumstamm sparen; der Kampf mit dem Nachwuchs ist mindestens so abenteuerlich und nervenaufreibend.
Wenn man dieses Abenteuer einigermaßen unbeschadet überstanden hat, bleibt einem nur noch der Griff nach den Nordic-Walking-Stöcken. Das ist die Sportart, die den wenigstens Nervenkitzel überhaupt verursacht, und genau das ist es, wonach Eltern sich sehnen!
Die Macht der Gewohnheit
Warum fährt mein Mann beim Anziehen immer mit dem linken Bein zuerst in seine Hose, und nicht mit dem rechten? Warum füllt er beim Frühstückmachen zuerst Teeblätter in die Kanne und dann Müsli in die Schüssel, nicht umgekehrt? Warum liest er immer zuerst die Medienseite statt der Sport- oder Politikseite? Warum trinkt er jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Bier, auch wenn es mitten in der Nacht ist und wir gerade von einer Einladung zurückkommen? Warum putzt er sich die Zähne von links nach rechts statt von rechts nach links?
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Vertraute Abläufe geben ihm Sicherheit, helfen ihm, sein In-die-Welt-geworfen-Sein leichter zu ertragen. Schon bei kleinen Kindern kann man beobachten, wie sehr sie das Bekannte schätzen und dem Neuen misstrauen: Versuchen Sie mal, beim Vorlesen des Lieblingsbilderbuches winzige Änderungen im Text zu machen – das Kind wird wütend protestieren. Auch beim gemeinsamen Singen muss unbedingt darauf geachtet werden, dass die Worte immer gleich sind. Selbst kleinste Abweichungen führen zu großen Irritationen.
Deshalb muss Oma auch jedes Mal den genau gleichen Nudelauflauf kochen, wenn ihre Enkel zu Besuch kommen, und die wollen dort im gleichen Bett wie immer schlafen, das an der gleichen Stelle stehen muss wie beim letzten und vorletzten und vorvorletzten Mal. Beim Spazierengehen dreht man natürlich dieselbe Runde wie immer, in der Stadt besucht man dieselbe Pizzeria, dasselbe Eiscafé, und bestellt – wie immer – Pizza Salami bzw. Coppa Amarena.
Zur Obsession können Rituale werden, die mit Festtagen verbunden und im kindlichen Gedächtnis tief gespeichert sind. Mein jüngster Bruder bestand noch im reifen Alter von fünfundzwanzig darauf, dass an Weihnachten gefälligst alles genau so abzulaufen habe wie früher, als wir noch klein waren. Also, das Wohnzimmer zwei Tage vorher zugesperrt und die Vorhänge geschlossen, geheimnisvolle Geschäftigkeit seitens unserer Mutter, am Weihnachtsabend gegen 17 Uhr das Erklingen des Glöckchens, die staunende Feststellung: »Das Christkind war da!«, die notorische mütterliche Aufforderung: »Jetzt schaut euch doch erst mal den schönen Baum an!«, Geschenke auspacken, Verlesen der Briefe und Karten unter allgemeiner Anteilnahme der Familienmitglieder, und zum Essen natürlich Karpfen mit Sahnemeerrettich und Kartoffeln, wie seit über zwanzig Jahren.
Die Familie ist der Nährboden für Rituale. Im täglichen Zusammenleben entstehen die kleinen Gewohnheiten und immer gleichen Abläufe, die Sicherheit geben, auch wenn sie einem zwischendurch furchtbar
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