Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)
dass ich hier bin, wird sie sich schneller wieder beruhigen. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, ich würde sie verfolgen. Wenn ich hierbleibe, gibt dir das mehr Zeit. Du musst ihr klarmachen, dass sie Hilfe braucht. Ich kann ihr nicht helfen. Sie lässt mich nicht. Bring sie zu einem Arzt. Das dürfte dir eher gelingen, wenn sie sich nicht meinetwegen Sorgen macht.«
Ich konnte seiner Erklärung nicht folgen.
»Ich rufe dich an, wenn sie hier ist. Dann überlegen wir weiter.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Lage deuten sollte. Warum hatten die Ärzte meine Mutter entlassen, wenn sie an einem psychotischen Schub litt? Selbst wenn man sie wegen einer juristischen Formalität nicht im Krankenhaus festhalten konnte, hätten die Ärzte mit meinem Dad reden müssen, aber sie hatten sich geweigert und ihn als Feind behandelt und ihr so geholfen, vor ihm zu fliehen. Auf andere Leute wirkte sie offenbar normal. Jemand von der Fluggesellschaft hatte ihr ein Ticket verkauft, die Flughafenpolizei hatte sie durch die Sicherheitskontrolle gelassen – niemand hatte sie aufgehalten. Langsam fragte ich mich, was sie an die Wände geschrieben hatte, und ich wurde den Gedanken an dieses Foto nicht los, auf dem Dad sich mit einem Fremden unterhielt.
Daniel!
In meinem Kopf klang das jetzt wie ein Hilfeschrei.
Die Anzeige aktualisierte sich, Mums Flugzeug war gelandet. Die Automatiktüren gingen auf. Ich lief zur Absperrung und sah mir die Gepäckaufkleber der neu eingetroffenen Fluggäste an. Wenig später trudelten die ersten Passagiere aus Göteborg ein. Vorweg die Geschäftsleute, die nach den laminierten Plastikschildern mit ihren Namen darauf Ausschau hielten, dann folgten die Pärchen und schließlich die Familien mit sperrigen, aufeinandergetürmten Gepäckstücken. Meine Mum war nirgends zu sehen, obwohl sie ein ordentliches Gehtempo hatte und ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie Gepäck aufgegeben hatte. Ein älterer Mann, sicher einer der letzten Reisenden aus Göteborg, zockelte an mir vorbei. Ich überlegte ernsthaft, meinen Vater anzurufen und ihm zu sagen, dass etwas schiefgelaufen sei, als die riesigen Türen mit einem Zischen auseinanderfuhren und meine Mum auftauchte.
Ihr Blick war auf den Boden geheftet, als würde sie einer Brotkrumenspur folgen. Über einer Schulter trug sie eine abgewetzte Ledertasche, die vollgestopft und sichtlich schwer war. Ich hatte die Tasche noch nie gesehen, so etwas kaufte meine Mutter normalerweise nicht. Ihre Kleidung sah genauso mitgenommen aus wie ihre Tasche. Ihre Schuhe waren abgestoßen. Die Hose war an den Knien zerknittert. An ihrer Bluse fehlte ein Knopf. Meine Mutter neigte dazu, sich eher zu elegant zu kleiden, fürs Restaurant, fürs Theater, sogar für die Arbeit hatte sie sich immer schick gemacht, obwohl es nicht nötig war, weil sie und mein Dad eine Gärtnerei im Norden Londons besessen hatten. Das T-förmige Grundstück zwischen stattlichen weißen Häusern mit Stuckfassade hatten sie Anfang der Siebziger gekauft, als die Grundstücke in London günstig waren. Während mein Dad zerrissene Jeans, klobige Stiefel und weite Pullover trug und selbst gedrehte Zigaretten rauchte, hatte meine Mum immer gestärkte weiße Blusen bevorzugt und dazu Wollhosen im Winter und Baumwollhosen im Sommer. Wenn die Kunden sie auf ihr makelloses Bürooutfit ansprachen und fragten, wie sie so sauber bleiben konnte, obwohl sie genauso mitanpackte wie mein Vater, lachte sie nur und zuckte treuherzig mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Keine Ahnung!« Dabei achtete sie bewusst darauf. Im Hinterzimmer hing immer saubere Kleidung zum Wechseln. Als Gesicht des Ladens, erklärte sie mir, müsse man immer den Schein wahren.
Ich ließ meine Mum weitergehen, weil ich sehen wollte, ob sie mich bemerken würde. Sie war deutlich dünner als bei unserem Abschied im April und sah schon ungesund aus. Ihre Hose hing ihr so locker und formlos von den Hüften, dass ich an eine angezogene Holzpuppe denken musste. Sie schien keine natürlichen Kurven mehr zu haben und wirkte eher wie eine hastig hingeworfene Zeichnung als wie meine echte Mum. Ihre kurzen blonden Haare sahen nass aus, sie waren glatt zurückgekämmt, aber nicht mit Wachs oder Gel, sondern mit Wasser. Sie musste kurz auf der Toilette gewesen sein, nachdem sie das Flugzeug verlassen hatte, um sich herzurichten und die Haare zu kämmen. Sie hatte immer jünger gewirkt, als sie war, aber in den letzten Monaten war ihr Gesicht
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