Ohne Netz
denke: »Harakiri. Gute Nacht, du schöne Welt.«
Und jetzt? Magert mein Leben ab zur analogen Mangelexistenz? Verkomme ich zu einem dieser bärtigen Sonderlinge, die einem in den Fußgängerzonen aus speckigen Jutebeuteln eng bedruckte Zettel über den nahenden Weltuntergang zustecken? Werde ich so einsam wie der sibirische Einsiedler, den sie in den Neunzigerjahren in einer Blockhütte unterm Polarkreis fanden und der nicht mal wusste, dass Stalin tot ist? Oder weitet sich mein Alltag? Erlebe ich stille, epiphanische Beglückungen, weil ich mehr im Moment weile als andere? Wär natürlich wunderbar. Ein halbes Jahr Rundumerfüllung und reine Aufmerksamkeit, ganz’n’gar im Hier’n’Jetzt.
Auf dem Heimweg, am Gasteig, radle ich gedankenverloren auf der falschen Straßenseite den Berg runter und sehe nicht, dass unten eine Polizeistreife steht. Strafzettel, 15 Euro.
DEZEMBER
Erster Monat, in dem der Proband zunächst schwere Entzugserscheinungen durchlebt. Er wird gehänselt, will sich einen buschigen Bart wachsen lassen, träumt von den Great Plains des Netzes und wird im Büro verhaltensauffällig. An Erfreulichem sind die dramatische Befreiung eines Erpels, ein Einladungsbrief aus einem bayerischen Hochsicherheitsgefängnis und ein stiller Silvesterabend zu vermelden.
1. DEZEMBER
All die Monate werde ich früh schlafen gehen, soviel steht schon mal fest. Wenn ich jeden Morgen um fünf Uhr am Schreibtisch sitzen will, muss ich ab sofort mit den Kindern ins Bett. Als B., meine Frau, gestern Abend sah, wie ich den Wecker stellte, sagte sie: »Bist du sicher? Ich hab dich öfter aufwachen sehen als du dich selber. Ist doch schon um sieben ein schwerer Kampf für dich.« Das stimmt, die härteste Nebenwirkung am Kinderhaben ist für mich das frühe Aufstehen. Ich bin eine Morgenmemme.
Es ist kurz vor fünf, ich sitze mit einer Kanne Grüntee im fahlen Blaulichtbezirk meines Rechners, nur der Bildschirm glimmt. Eigentlich sollte das Tagebuch entstehen in einer Zeit, in der ich entspannt durchs Leben flaniere. Ich wollte dafür ein Sabbatical nehmen, was leider nicht geklappt hat. Also stattdessen in Nachtschichten, mit zusammengekratztem Urlaub. Die Entspanntheit muss ich irgendwie hinter dem Rücken meines Alltags in den Text hineinschmuggeln, schließlich gleicht ebendieser Alltag mittlerweile eher einem gramgebeugten Kohlekumpel als einem Flaneur: Schwarz von Staub fährt er jeden Tag erneut ein in den klaftertiefen Schacht namens Arbeit. Hätte ich jetzt das Internet offen, würde ich sofort schauen, wie tief ein Klafter ist. So kann ich nur entweder in eine Bibliothek fahren, was ich wahrscheinlich nicht mehr getan habe seit meinem Studium, was ungefähr gleichbedeutend ist mit: seit Google (ich habe 1996 meinen Magister gemacht), oder meinen Vater anrufen, der noch beeindruckend viele solcher Fachwissenspartikel wohlverwahrt in sich herumträgt, aber der schläft um die Uhrzeit hoffentlich noch. Ne, Moment, in ein Lexikon könnte ich schauen. Ich hatte früher einen dreibändigen, weinroten Universal-Meyer. Aber der steht längst im Keller, irgendwo weit hinter den Koffern.
Nachdem ich gestern die Abschieds-Mail an einige Freunde geschickt hatte, rief Abraham an und erkundigte sich, ob ich mein Experiment jetzt tatsächlich nebenher machen wolle, inmitten der Zeitungskrise. Als ich ihm von meinem Plan erzählte, jeden Morgen sehr früh aufzustehen und zwei Stunden zu schreiben, sagte er, ihn erinnere das an diesen jüdischen Philosophen, der in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs seine Ideen auf Feldpostkarten notierte und sich selbst nach Hause schickte. »Als er zurückkam, hatte er sein erstes Werk fertig, wie hieß der noch, das Buch hatte irgendwas mit Stern im Titel.« Er meinte das als Trost, selbst unter den irrwitzigsten Bedingungen kann man einen guten Text schreiben, aber jetzt sitze ich hier in tiefer Nacht und denke an die bombenzerfetzten Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Außerdem ist da der starke Drang, kurz ins Netz abzubiegen und diesen Philosophen zu googeln, »jüdischer philosoph erster weltkrieg stern«, bingo. Geht nicht mehr. Aus. Vorbei. So starre ich minutenlang auf das blinkende Cursor-Stäbchen hinter »Vorbei« und denke, was für eine sensationelle Schnapsidee. Ein halbes Jahr ohne Google – wie soll das denn gehen, bitte? Hallo? Kann mich jemand hören?
Ja, anscheinend die Kinder. Punkt halb sechs stehen sie beide am Schreibtisch, barfuß im Schlafanzug,
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