Ohne Netz
DER TAG DAVOR
Der Proband bereitet sich vor Zeugen auf sein Experiment vor, verabschiedet sich von all seinen Freunden und hat im Aufzug Angst, so zu enden wie ein sibirischer Einsiedler. Alles beginnt aber mit einem stummen Duell und der Frage, ob das denn überhaupt erlaubt sei.
30. NOVEMBER
Mittags, auf dem Weg in die Kantine, bitte ich Christopher und Bernd, mit mir einen kurzen Umweg zu machen, bei den Jungs von der IT, im zweiten Stock, vorbei. Ich will die beiden als Zeugen dabeihaben. Der Sachbearbeiter, der mir das Gerät vor etwa einem Jahr ausgehändigt hat, fragt zuerst, ob das ein Scherz sei.
»Nein, ich will nur, dass Sie das Ding in Verwahrung nehmen. Am 31. Mai komme ich und hol’s mir wieder ab.«
»Aber warum denn nur?«
»Ich gehe ein halbes Jahr offline.«
»Da können Sie den Blackberry doch auch zu Hause in eine Schublade stecken.«
Ebenso gut könnte ein Dealer seinem Kunden sagen, um clean zu werden, reiche es, das Crack auf den Schrank zu legen, außer Sichtweite, vielleicht noch in einer Kaufhof-Tüte verstecken, dann werde das schon klappen mit ein bisschen gutem Willen. Ich halte dem Mann stumm meinen Blackberry hin. Er sieht mich regungslos an und verschränkt die Arme. Mittlerweile schauen uns alle Mitarbeiter in dem Büro zu, Christopher und Bernd stehen feixend in der Tür, Bernd sagt: »Der meint’s erst.« In dem Moment kehren sich die Fragen ins Sorgenvolle: Ob mit mir alles in Ordnung sei, ob ich Probleme mit dem Ding hätte. »Ja, hab ich, deswegen sollen Sie’s ja zurücknehmen.« Da steckt er den Blackberry achselzuckend in die oberste Schublade seines Schreibtischs und sagt: »Sie kommen doch eh nachher ohne Ihre Freunde zurück und holen ihn sich heimlich wieder.«
Als ich nach dem Kantinenbesuch beim IT-Support anrufe, versteht die Sachbearbeiterin erst mal gar nicht, was ich will. Ob denn irgendwas nicht stimme mit meinem Internet.
»Nein, alles wunderbar und makellos, ich will’s bloß ein halbes Jahr los sein.«
Stille in der Leitung.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Ja. Schon. Ich weiß bloß gar nicht – ... Ist das denn erlaubt?«
Erst als ich der Frau mehrfach versichere, dass das wirklich abgesprochen sei, mit der Chefredaktion und mit der Ressortleitung, verspricht sie mir, um 22.30 Uhr Mozilla Firefox, Skype, Lotus Notes und den Internet Explorer von meinem Rechner zu schmeißen.
Nach diesem Anruf werde ich unsagbar nervös, ich schreibe wie besessen E-Mails und ziehe mir panisch Zeug aus dem Netz, für die Zeitungsthemen der nächsten Wochen, aber auch für dieses Tagebuch. Wer weiß, vielleicht finde ich ja noch gute Texte über digitale Sucht, Beschleunigung, Überforderung. Oder einen weiteren geistreichen Lobgesang auf die Allzeitvernetzung und Intelligenz des Internets. Noch vor einer halben Stunde fühlte sich das Ganze an, als würde ich heimlich auf Abenteuerurlaub fahren. Jetzt ist es, als würde ich für eine gnadenlose Arktisexpedition packen, auf der ich ein halbes Jahr keinen Menschen sehe, ein Fehler, Greenhorn, und du erfrierst elendig zwischen Eisschollen.
Kurz vor Dienstschluss stelle ich mit Erstaunen fest, wie dumm der sogenannte Abwesenheitsagent ist. Gibt man zwei Daten ein, formuliert er daraus den kategorischen Satz: »Ich werde vom 1. Dezember bis zum 31. Mai nicht im Büro sein.« Ich werde aber die meiste Zeit im Büro sein, du bescheuerte Kiste. Genauer gesagt die halbe Zeit: Ich werde das kommende halbe Jahr im monatlichen Wechsel zu Hause und in der SZ verbringen, um besser unterscheiden zu können zwischen den Auswirkungen, die das Offlinesein auf mein Arbeits- und auf mein Privatleben hat. Man kann den Satz nicht umformulieren, nur was drunterschreiben: »Halt! Stimmt nicht! Ich bin die meiste Zeit da. Aber ich habe für sechs Monate meine Mail abgestellt. Über postalische Zuschriften, Faxe oder gar persönliche Besuche freue ich mich in dieser Zeit des digitalen Fastens noch mehr als sonst schon.« Danach noch eine Sammel-Mail an gute Freunde, in der ich mich verabschiede und sie bitte, mich nicht zu vergessen. Friedmann verspricht in seiner prompten Antwort, er werde »nachher mal auf den Dachboden steigen – Hausstaubmilben, ich komme! – und Postkarten raussuchen«. Dann fragt er noch, wie viele Mails ich heute bekommen hätte, »am letzten Tag vor deinem Harakiri«. War ein ganz normaler Tag: 68 Mails im Eingang, 45 geschrieben. Ich mache den Rechner aus, ziehe meine Jacke an, stelle mich in den Aufzug und
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