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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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ist Rhodos, Kleiner, hier springe!
    Die Spannung hielt einen Moment an.
    »Was macht ihr?« fragte Marya, die plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war und sich die Schlafkörner aus den Augen rieb.
    Ich blieb eine Woche. Danach fuhr ich nach Budapest zurück. Gábor traf ich nicht mehr. Großpapa fand ich nicht mehr. Wahrscheinlich hatte ich ihn nie gefunden. Alles, was ich in Ungarn gefunden hatte, waren Menschen, die sich vom Zehnmeterbrett des Kapitalismus stürzten, aber irgendein Trottel hatte vergessen, zuvor Wasser ins Schwimmbecken einzulassen.
    Binnen zehn Stunden löste ich meine Wohnung auf. Ich nahm den Nachtzug über Warschau.

Siegerjustiz
    Es sah aus wie Minsk, hörte sich an wie Minsk, es roch nach Minsk. Der Regen auf den von Autos verstopften Boulevards, der Staub auf dem vergilbten Gras. Die Altstadt, lächerlich eingeklemmt zwischen Magistrale und totem Fluß. Die Greisinnen entlang den Straßen zu den Rynki, den Markthallen, die eingelegtes Gemüse verkaufen und Strickmützen, mitten im Sommer. Menschen, die einander nicht in die Augen sehen, wenn sie sich auf dem Weg von der Metro zum Wohnblock begegnen. All das war Minsk.
    Drei Jahre waren vergangen. Ich hatte keine Freundschaften zurückgelassen, also auch niemanden, den ich, der mich erwartete. Was aus den anderen Internatszöglingen geworden war – ich wußte es nicht. Hin und wieder las ich, lese ich ihre Namen, meist wenn es darum geht, daß einer von ihnen in der administrativen Hierarchie gestiegen ist, Zahn um Zahn der Fall treppauf.
    Das einzige, was sich wirklich verändert hatte, war die Regierung. Der neue Präsident klingelte an der Tür des großen Bruders, weil es ihm, dem Herumtreiber, eindeutig zu kalt geworden war da draußen im westrussischen Winter. Die Nationalisten, so sagte er, hätten dem jungfräulichen Land die Sprache genommen. Russisch und Weißrussisch erklärte er wieder zu gleichberechtigten Partnern. Bloß ist es fraglich, ob der Bär die Laus im Pelz je als gleichberechtigten Partner akzeptieren wird. Immerhin hatten wir nunweißrussische Straßennamen, schmucke neue Schilder, die allerorten prangten. Nur verhalf auch dies zu wenig mehr als einer babylonischen Sprachverwirrung, denn die Stadtpläne waren immer noch auf Russisch, und niemand hatte vor, weißrussische Pläne zu drucken. Die wenigen ausländischen Studenten, die den Weg nach Minsk gefunden hatten, begannen, sich Transkriptionsverzeichnisse für Straßennamen zuzulegen. Ich orientierte mich ohnehin nur mit Kompaß. Und mit meiner Nase. Nichts roch charakteristischer als die Gegend um die Studentenwohnheime. Wodka und Kombüsenabfälle.
    Die Mensa war mein zweites Zuhause geworden. Ich stocherte in meiner Kascha, die nicht gerade besser schmeckte, seit ich die ungarische Küche kennengelernt hatte, als ich eine Stimme neben, über mir sagen hörte:
    »Ich weiß, mein Gott lebt!«
    »Halleluja«, antwortete ich mechanisch, »fragt sich nur, wovon?!«
    Ich sah auf, Stanislau strubbelte mir mit der Rechten durchs Haar, während er mit der anderen Hand so ungeschickt sein Tablett balancierte, daß die Suppe vom Teller troff. Seine Statur war die eines zähen Langläufers geblieben, aber sein Gesicht hatte sich verändert. Es war voller geworden. Und um die Augen hatte es Furchen bekommen, die wie die Strahlen kleiner Sonnen schienen.
    Es hätte der Anlaß für ein Besäufnis sein können. Ja, wären wir in Budapest gewesen, Gábor hätte aus seiner Notration Äthylalkohol unter Zugabe von Aprikosensirup mindestens acht ordentliche Herrengedecke gezaubert. Aber wir waren in Minsk, und so blieb es bei einem robusten Händeschütteln. Stanislau ließ sich auf den freien Platz mir gegenüber fallen.
    »Meine Eltern haben mir von deiner Großmutter erzählt. Sie soll eine Heilige gewesen sein.«
    »Ja, ihre Reliquien sind schon bei Christie’s.«
    »Was machen deine Tanten jetzt?«
    »Renovieren, nehm ich an. Gegen den Weihrauchgestank, den Großmama bei ihrer Himmelfahrt hinterlassen hat, hilft nur Chemie. Die Fassade könnte auch mal wieder einen Anstrich vertragen. Der letzte stammt noch von mir.«
    »Du meinst: von uns.«
    »Das meine ich nicht, Stas. Soweit ich mich erinnern kann, warst du die ganze Zeit damit beschäftigt, Tanja unter den Rock zu schielen.«
    »Sie stand halt über mir.«
    »Du standst halt auf sie.«
    »Was treibt Tanja?«
    »Bin ich der Hüter meiner Tante?«
    »Und unser Tümpel?«
    »Noch nicht ausgetrocknet. Aber vielleicht steht

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