Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
Vom Netzwerk:
einst umbetten wird.
    Alezja. Mit Pagenschnitt. Ich war überrascht, wie viele Falten sich auf ihrem achtzehnjährigen Gesicht abzeichneten. Sie steckte sich eine Zigarette an. Tanja zischte, aber ihre kleine Schwester ließ sich nichts mehr sagen, jetzt nicht mehr, nie wieder, von niemandem mehr.
    »Vorbei mit der Bevormundung. Endgültig.«
    »Ich dachte, nach Vaters Tod wäre die Tyrannei zu Ende gewesen?«
    »Spinnst du?«
    Alezja unterdrückte nur mit Mühe ein hämisches Lachen. »Damit hat alles erst angefangen. Als Kolja tot war, hat die Betschwester da«, sie zeigte mit der brennenden Kippe auf das Grab, »das Haus in ein Kloster verwandelt.«
    »Lesja!«
    Ich hielt Tanja davon ab, nach ihrer Schwester zu schlagen. »Was? Was willst du? Du hast doch auch unter ihr gelitten, oder nicht?«
    An mich gewandt fuhr Alezja fort:
    »Sie hat nicht studieren dürfen. ›Mädchen brauchen sowas nicht, wir sind ja schließlich nicht mehr in der Sowjetunion‹. Und irgendjemand mußte sich um die Kleine kümmern, als die Betschwester arbeiten ging.«
    »Und warum hast du dir das gefallen lassen?« fragte ich Tanja. »Was hätte ich denn tun sollen?«
    Sie sah mich irritiert an.
    »Lesja hat sich kein bißchen um das Kind gekümmert.
    Irgendjemand mußte da sein.«
    »Natürlich, schieb’s auf mich, Tanja. Weil du zu feige warst, das Maul aufzumachen.«
    »Wir hatten kein Geld, die Kleine unterzubringen. Außerdem wäre sie todunglücklich geworden …«
    »Ja«, sagte Alezja, drückte die Zigarette am Boden aus, ich sah, wie der Lippenstift, der am Filter klebte, nun ihre Finger verschmierte, »ja, erzähl deinem Neffen, was die Betschwester mit Marya veranstaltet hat. Ich muß gehen. Einer in dieser Familie muß schließlich das Geld nach Hause bringen.«
    Marya hatte Großmama bei der Geburt eine Niere gekostet. Seither trug sie diese »Verantwortung«. Sie war bestrebt, unauffällig unter den Menschen zu bleiben, sich leise zu ducken, sich zu beugen, um nicht auch noch jemanden das Herz oder den Verstand zu kosten. Marya: die Nierenkosterin. Großmama hatte nicht verabsäumt, der Kleinen Tag für Tag die Sünde ihrer Geburt vorzuhalten, ihr Reue und Bußfertigkeit einzutrichtern. Tatsiana und Alezja tyrannisierte sie mit Verboten, schlug sie, wenn sie sich einen zu kurzen Rock anziehen wollten, verbot ihnen, sich mit Jungs zu treffen. Weil sie inzwischen von Alezja erfahren hatte, was der Großpapa mit ihr auf der Toilette getrieben hatte, traf es sie besonders hart. Sie gab ihr die Schuld daran, sperrte sie tagelang in ihrem Zimmer ein, bis die Lehrer vor der Tür standen, um Alezja abzuholen, bis die Lehrer mit der Polizei drohten, wenn Alezja nicht mehr pünktlich zur Schule käme, bis Großmama sie von der Schule nahm und zu Kaslou schickte, wo sie zwei Jahre lang putzte, bevor sie als Verkäuferin in einen Fleischerladen wechselte. Alezja hatte sich nicht das Haar geschnitten. Die Großma-ma hatte ihr eines Nachts die Unzucht der langen blonden Strähnen kupiert, mit dem Fischmesser, das sie den Tag über geschärft hatte. Wenigstens würde sie sie jetzt nicht mehr an den Haaren in die Kirche ziehen. Alles hatte ein Gutes.
    Unter diesen Umständen war Tatsiana noch gut weggekommen. Wir saßen zuhause, hatten Wodka auf den Tisch gestellt.
    Marya war in ihr Zimmer enteilt. Der Weihrauchgeruch benebelte mir noch immer die Sinne.
    »Und wie geht es jetzt weiter bei euch?«
    Tanja zuckte mit den Schultern.
    »Ich schlage vor, ihr legt euch zuerst einmal ein Telefon zu. Es war abenteuerlich, euch zu erreichen.«
    »Es war abenteuerlich, dich überhaupt ausfindig zu machen, Wasja.«
    »Wann wirst du dein Medizinstudium beginnen?«
    »Erst muß Marya aus dem Gröbsten raus sein.«
    »Marya ist aus dem Gröbsten raus, sie kommt in die Schule.«
    Tanja lächelte mitleidig.
    »Marya wird nie aus dem Gröbsten raus sein. Du warst nicht da, Wasja, du hast das alles nicht erlebt.«
    »Fahnenflucht, ich weiß, ich weiß.«
    »Siehst du sie irgendwo, Wasja, siehst du Marya? Du siehst sie nicht. Sie hat Angst vor Fremden. Du bist ein Fremder für sie. Sie hat auch Angst vor Alezja. Manchmal hat sie sogar Angst vor mir. Ich höre sie nachts lange beten und weinen. Ein sechsjähriges Mädchen sollte nicht lange beten und schon gar nicht lange weinen müssen. Glaubst du, ein solches Kind kann man auf eine Ganztagsschule schicken? Glaubst du, wir könnten uns eine solche Schule überhaupt leisten?«
    Ich bot Tatsiana meine

Weitere Kostenlose Bücher