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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Hände, die einen Moment ohne Zigarette blieben. Die rechte hielt die linke. Oder die linke die rechte. Sie waren so sehr ineinanderverschränkt, daß das schwer auszumachen war.
    »Ich wollte es uns so leicht wie möglich machen. Und hab uns damit wohl alles unendlich schwer gemacht.«
    Ich schwieg. Begann, Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher zu fummeln und sie auf dem Tisch wieder gerade zu biegen.
    »Ich wollte dir nicht im Weg stehen, ich dachte wirklich, für dich wäre das gut. Du kommst raus, du findest neue Freunde.«
    »Und natürlich hast du dabei kein bißchen an dich gedacht.«
    »Was hätten wir hier schon bieten können? Pioniertage in Hrodna. Kolja besoffen im Keller. Onkel Janka auf dem Pferdemarkt.«
    »Polaroids für die Ewigkeit.«
    Tanja schlug die Beine übereinander. Sie beschäftigte sich mit einem neuen Mückenstich. Dabei schob sich ihr Rock so weit über den Oberschenkel, daß ich den Saum ihres Slips sehen konnte.
    »Wir zwei hätten daran nichts geändert. Unsere Großen haben doch nie gefragt, was wir eigentlich wollen.«
    »Was wolltest du denn, Tanja?«
    Sie drehte sich halb weg von mir, ich sah ihr Profil, sah, wie sich der Rauch um ihre Schneidezähne bewegte, die noch immer ein wenig vorstanden. Betörend.
    »Merkst du eigentlich, daß du mich immer weggeschubst hast, wenn ich nicht gesagt habe, was du hören wolltest? Immer, wenn es darauf ankam, hast du mich weggeschubst. Aber ich will, wenn man mir den kleinen Finger bietet, nicht nur die ganze Hand, sondern den ganzen Menschen, Wasja.«
    Ich verstand nicht, wovon sie sprach. Ich verstand nur, daß mir unser Gespräch ein Loch in den Magen grub, als hätte ich zu wenig gegessen oder zuviel geraucht. Ich hörte das Sirren der Gefriertruhe, ein neuer Film, ein alter Film, die Bilder unvergessen: Tanjas Trägerkleid bis weit über die Taille hochgerutscht, der lilafarbene Halo einer Brustwarze, ich spürte, wie sich mein Schwanz gegen den Reißverschluß der Hose aufbäumte.
    »Ich zeig dir jetzt was. Ich wollte es eigentlich nicht tun. Nie. Aber sonst glaubst du mir ja nicht.«
    Tanja machte mir Zeichen, in ihr Zimmer zu folgen. Es war das ehemalige Schlafzimmer meiner Eltern. Im Haus war es so dunkel, daß ich einige Augenblicke brauchte, um mich zu orientieren. Alezja und Marya hatten die Schlafpositionen getauscht, lagen jetzt mit den Rücken gegeneinander. Bildeten eine 96.
    Tanja schaltete eine funzelige Nachttischlampe an, zog aus einer Kommode einen Karton, in dem sie jede Menge Krimskrams aufbewahrte: eine bunte Kinderkette, winzige Versteinerungen, Kinokarten, kleine Zettel, auf denen Mädchen einander fragten, ob sie beste Freundinnen sein wollten. Und ein Schächtelchen mit aufgeklebten Wollfäden, die eine Butterblume vorstellten, eine Textilarbeit der dritten oder vierten Klasse. Tanja öffnete sie, hielt sie mir hin, ich sah hinein.
    »Was ist das?«
    »Das? Du erkennst dein eigenes Hemd nicht mehr?«
    Ich zog einen karierten Stoffetzen heraus, eine Manschette, an fadenscheinig gewordener Stelle entzweigegangen. Entgeistert hob ich beide Augenbrauen, starrte darauf, bis mir Tanja den Ärmel entriß und Schachtel und Karton geräuschvoll wieder in der Kommode verschwinden ließ.
    »Frag mich nicht, warum ich das blöde Ding aufbewahrt habe«, schimpfte sie, mehr auf sich, denn auf mich, »bescheuerte Sentimentalität, was?, war eben das einzige, was mir von diesem Abschied geblieben ist, vielleicht hat es mich daran erinnert, was ich alles falsch gemacht habe, und daß ich immer selbst daran schuld bin, wenn es mir dreckig geht, vielleicht wollte ich einfach etwas behalten, das mich an eine Zeit erinnert, in der noch nicht alles so Scheiße war, vielleicht hat es ja auch ein bißchen nach dir gerochen, das Ding, vielleicht hattest du vorher ausnahmsweise mal gebadet, vielleicht – «
    Ich nahm Tanjas Kopf in beide Hände und beendete die Tirade mit einem Kuß auf ihren Mund. Sie kam noch zwei, drei Konsonanten weiter, dann spürte ich ihre Schneidezähne auf meinen Lippen, einen kurzen Schmerz, ich schmeckte Blut, Tanjas Zunge, den Rauch, die Worte des ganzen Tages auf unseren Lippen. Und ein tiefes Wissen überfiel mich mit tiefer Stimme, fiel über mich her, oder eher: etwas, dasein tiefes Wissen nachahmte und nachäffte, das mit tiefer Stimme zu mir sprach: Heimat, du suchst Heimat, aber weil du sie nicht finden kannst oder es nicht zulassen kannst, sie zu finden, zieht es dich immer wieder weg, irgendwohin. Hier

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