Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Kleine lassen?«
»Lesja könnte auf sie aufpassen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Wasja!«
»Nur hin und wieder. Aber wir könnten sie auch mitnehmen. Es gibt nichts, was sie nicht sehen dürfte, oder?«
Sie sah mich mit fragendem Blick an.
»Um die Kohle mußt du dir keine Sorgen machen, Tanja, das weißt du.«
»Und wo soll die Kleine deiner Meinung nach sitzen?« Das war allerdings eine gute Frage. Das Auto wäre unter Umständen groß genug gewesen, hätte ich es nicht von vorn bis hinten vollgestopft mit den überlebenswichtigen Dingen: See- und Schlafsack, Isomatte, Getränke- und Konservenbüchsen, Werkzeugkoffer, Kartenmaterial für Ost- und Mittelosteuropa. Mein neuer Freund war kaum geeignet für den Transport von mehr als (m)einer Person.
Ich öffnete die Beifahrertür, lockte Tatsiana, bat sie, alles, was aus Blech war, nach hinten zu werfen, dann hättenwenigstens wir beide Platz. Die Milinkiewitsch, eine Nachbarin, sah herüber, grüßte, rief in Trasjanka:
»So ein schöner Wagen! Der hätt’ dein’ Großvater aber gefreut. Gott hab ihn selig!, die vermaledeite Rückenentzündung!«
Ich setzte mich augenrollend. Dann startete ich den Motor. Tanja protestierte, in kaum einer Stunde wäre Marya von der Schule zurück. Doch ich quengelte so überzeugend, daß sie sich in ihr Schicksal ergab. Ich war in jedem Fall das anstrengendere Kind.
Wir fuhren ins Offene. Ich konnte Tanjas Sonnencreme riechen. Und ihren Atem. Er war säuerlich, Buttermilch, dachte ich, sie hatte geraucht. Kaum war Marya aus der Tür gewesen, hatte sie sich eine Zigarette angesteckt. Ich wußte, daß sie es auch mit einem Gedanken an mich getan hatte, weil ich heute wieder nach Hause kam.
»Wenn du rauchen willst: ich hab Zigaretten. Irgendwo auf dem Rücksitz müßten sie sein.«
Tanja streichelte mir über den frisch geschnittenen Haaransatz an meiner Schläfe.
»Irgendwo auf dem Rücksitz müßte auch ein Alligator sein, oder?«
»Wenn er unter dem ganzen Krempel noch atmen kann.« Tanja begann zu suchen, dann zog sie abrupt die Hand zurück.
»Was ist?« fragte ich.
»Jetzt hat er mich gebissen.«
»Nicht so schlimm«, sagte ich, »solange es kein Komodowaran war. Es gibt nur ein Lebewesen auf der Welt, das seinen Biß überlebt hat.«
»Und das wäre?«
»Mein Freund Gábor aus Budapest.«
»Der hat den Bakterien-Cocktail im Speichel überlebt?« »Ja.«
»Wie hat er das angestellt?«
»Fünf Jahre ungarische Musiker-WG.«
Tanja lächelte, tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Sie hatte inzwischen gefunden, was sie suchte und inhalierte den Rauch mit sichtlichem Vergnügen.
»Glaubst mir nicht, was? Du hättest die Wohnung sehen sollen.«
»Lieber nicht. Ich hol mir meine Resistenzen lieber über ganz normale Impfspritzen.«
Wir waren an einem Kriegsmonument angekommen, das sonntags nur so von Brautpaaren wimmelte, die Kränze niederlegten und sich rittlings auf einem Panzerrohr ablichten ließen, die Frauen mit Röcken, die stets ein wenig zu kurz waren. Oder zu lang. Jetzt, Freitagmittag, war der Platz wie ausgestorben. Ich stellte den Motor ab. Wir blieben im Auto sitzen. Tanja rauchte weiter, zeigte mir ihr Profil.
»Cola-Dosen. Erbsenbüchsen. Ein ganzes Survival-Pack. Du brauchst das Zeug nur, weil du schnell wieder weg sein möchtest, wenn es darauf ankommt, oder?«
Ich stützte mich auf das Lenkrad. Was ich jetzt am wenigsten erwartet hatte, war eine Grundsatzdiskussion.
»Vielleicht«, sagte ich, »ein guter Gast ist ein auf alles vorbereiteter Gast.«
»Du fühlst dich also zu Gast bei mir?«
»Ich bin überall nur zu Gast. Auch in meinem eigenen Leben.«
»Wie pathetisch! Und du glaubst nicht, daß das auch an dir liegt?«
Immer nur Gast sein, sagte der Großpapa, sei unser ungarisches Erbe, Punktum! Erst hatten die Europäer die Ungarnmitten im Nichts angesiedelt, dann hätten die Aftersozialisten es ihnen auch noch unmöglich gemacht, dieses Land zu verlassen. Was das für ein altes Nomadenvolk bedeute, ihm Ketten anzulegen? Den Untergang. Den Untergang in der Melancholie. Den Untergang im Suff. Ich soff nicht. Ich fuhr Auto. Ich nomadisierte wie meine Altvorderen.
»Was ist so schlecht daran? Ich tu nun mal nicht gern Sachen, die ich nicht gern tu. Die Lehre hab ich aus dem Internat. Ich muß wissen, daß ich gehen kann, wenn es mir irgendwo nicht gefällt.«
»Zum Beispiel: aus meinem Leben.«
»Zum Beispiel: aus dem Studentenwohnheim.«
»Das ist jetzt nicht
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