Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
abgespart hatte. Aber sie war ein Mensch, der wusste, dass es im Leben Geschenke gibt, die man nicht zurückweisen darf.
»Junge, was für eine Überraschung!«, sagte sie nundoch mit Tränen in den Augen. »Ich . . . ich muss vor Freude einfach heulen.« Doch sie lachte tapfer, ebenfalls mit Tränen in den Augen.
Sie schnitt von dem Fleisch und begann zu essen, ganz kleine Bissen. Sie aß langsam, als ob sie kaum schlucken könnte, dachte Oleg. Aber das tat sie natürlich, weil das Kotelett so gut war und sie so lange wie möglich etwas davon haben wollte.
19
Die Nacht war dunkel und bis zu den Sternen erfüllt vom Dröhnen der Geschütze. Mutter war in einen ruhigen, tiefen Schlaf gefallen. Oleg hörte ihre Atemzüge zwischen den Kanonenschüssen. Er selbst konnte nicht einschlafen. Von dem Augenblick an, als er nach Hause gekommen war, wuchs das Gefühl in ihm, dass jetzt alles anders würde.
›Ich bin verändert!‹, dachte Oleg. Als er seiner Mutter den Teller gebracht hatte, war ihm plötzlich das Gefühl gekommen, wie schön es doch eigentlich war zu leben. Viele Gedanken gingen Oleg durch den Kopf, während er mit geschlossenen Augen unter der Bettdecke lag. Seine Unsicherheit und seine Angst waren verschwunden.
Er hatte lange mit seiner Mutter gesprochen. Was er noch niemals gewagt hatte, war endlich geschehen:Zum ersten Mal hatte er ihr von dem Angst einflößenden Wassertier, von den Lastwagen auf dem See, von Nadja erzählt. Danach war es nicht mehr schwierig gewesen, seiner Mutter zu sagen, dass er nicht evakuiert werden wollte. Nicht als nörgelndes Kind, sondern als ein Mensch, der für seine Taten einstand: So hatte er es ihr gesagt.
»Ich bleibe in Leningrad, bei dir.«
Seine Mutter hatte nur kurz überlegt. »Gut, Oleg. Dann müssen wir das morgen Onkel Wanja mitteilen.« Sie würden zusammenbleiben. Und das war gut, denn in einem Krieg brauchten sich alle gegenseitig. Nur wenn man zusammenhielt und sich aufeinander verlassen konnte, waren die Schrecken zu ertragen.
Draußen vor der Stadt, in den Kampflinien, schien die Hölle losgebrochen zu sein. Die Kanonen und Granatwerfer, die Mörser und Maschinengewehre schossen wie irr. Eine schwere, erbitterte Schlacht war im Gang.
Oleg dachte an den deutschen Kommandanten. Ob der nun auch hinter einem Maschinengewehr lag und um sein Leben kämpfte? Wenn nun alle Russen und alle Deutschen zugleich die Waffen wegwürfen und Freundschaft schlössen . . . Ob das nicht viel einfacher wäre, als Krieg zu führen?
›Ich bin verändert‹, dachte Oleg abermals, denn er fühlte keinen Hass mehr und konnte deshalb an Frieden denken. Noch vor einer knappen Woche hatte er – wie jeder in Leningrad – ständig einen wilden Hass auf die Deutschen verspürt. Gerade dieser Hass hatte ihm häufig geholfen, die Tränen hinunterzuschlucken,und er hatte ihm Kraft verliehen bei allem, was er erlebte: die Luftangriffe, die Brände, die Toten im Schnee. Aber konnte man mit ihm die Trümmer wieder aufbauen? Die Begegnung im Niemandsland hatte Oleg gelehrt, dass es gute Deutsche gab. Der deutsche Patrouillenkommandant war ein Freund gewesen. Er hatte Nadja gerettet – wenn es auch nur für zwei Tage gewesen war.
War es nicht ein Wunder, dass man in einem Krieg seinen Hass verlieren konnte?
Von dem Augenblick an, da er den großen deutschen Stiefel neben sich im Schnee hatte stehen sehen, hatte sich in ihm etwas verändert. Er hatte erlebt, wie ein Feind sich als Freund erwiesen hatte. Er würde diesen deutschen Kommandanten nicht vergessen.
Himmel, wie die Geschütze dröhnten! Südlich der Stadt wurde erbittert gekämpft. Tausende von Bomben und Granaten mussten die Erde dort buchstäblich zerreißen.
»Die Dinge geschehen eben«, hatte seine Mutter gesagt. Aber es war nicht alles unabwendbar. Unabhängig von den Dingen entstanden die Taten von Menschen und erklangen ihre Worte. Das war es, was dem Leben manchmal Glanz gab.
Oleg dachte jetzt an die russischen und an die deutschen Soldaten an der nahen Front. »Herr erbarme dich ihrer«, betete er leise.
Die Nacht war dunkel und ganz von der Gewalt des Krieges erfüllt. Schließlich war Oleg doch eingeschlafen. Leningrad erbebte von den Einschlägen der Granaten.Im eiskalten Zimmer klirrten Messer und Gabeln in der Schublade des Büfetts. Doch über das Gesicht von Oleg Turjenkow glitt ein Lächeln.
20
Oleg wachte erst auf, als die Tür mit einem harten Schlag zufiel und er schwere Schritte hörte. Onkel
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