Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
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Oleg betrachtete die Menschen um sich her. Verschlossene Gesichter, bemüht, alle Gefühle zurückzudrängen. Ein Mann, Oleg gegenüber, blickte mit so viel Verbissenheit und Hass in den Augen auf die Gefangenen, dass Oleg erschrak. Eine alte Frau schlug voller Entsetzen ein Kreuz. Ein hagerer Arbeiter biss sich auf die Lippe und fluchte unhörbar.
Da kamen sie nun, diejenigen, die die Stadt bis in ihr Herz verwundet hatten. In Viererreihen marschierten sie vorüber. Manche trugen noch den Helm, andere feldgraue Schiffchen mit Ohrenklappen, und hielten die Hände in die Mantelärmel geschoben, weil sie keine Handschuhe hatten. Einzelne waren verwundet: Auf die Kameraden gestützt schlurften sie mit schmerzverzogenem Gesicht dahin.
Ein endloser Zug bewegte sich durch die bedrückende Stille, an dem lebensgroßen Vorwurf der Trümmerhaufen entlang, durch die Leere, die sie in die Familiengeschlagen hatten, vorüber an Witwern, Witwen und Waisen und an den noch nicht geborgenen Toten im Schnee.
Da gingen sie – mit ihrer Scham und ihrer Schuld. Oleg spürte, dass ihm kalte Schauer über den Rücken liefen. Auch er biss sich jetzt auf die Lippen, denn es war ein entsetzlicher Anblick: so viele erwachsene Männer in gebrochenem Stolz, niedergeschlagen und in dumpfer Resignation vorbeigehen zu sehen. Ab und an blickte einer scheu auf, um dann den Blick rasch wieder zu senken. Um sie her lag die Stille des tief verwundeten Leningrad. Doch kein Notschrei aus den Trümmerhaufen der Stadt, kein ängstliches Wimmern eines sterbenden Kindes, keine Flüche des Hasses und Zorns hätten tiefer und beschämender verletzen können als diese verbissene Stille.
Oleg hatte sie monatelang gehasst, doch wie sie da nun vorüberzogen – unrasiert, zu Tode erschöpft, verwirrt –, nun, wo ihnen nichts geblieben war als ihre Niederlage, fühlte Oleg ein Würgen in der Kehle, weil dieser Aufzug so gemein war. Er hätte vor Scham weinen können in diesem Augenblick des Triumphes. Wo blieb die Freude nun? Er dachte an seinen Vater, dann an Nadja. Mit Erschütterung dachte er plötzlich an den deutschen Patrouillenkommandanten. Ob er auch in diesen erbarmungswürdigen Reihen ging, die all ihren Mut, ihre Kampfeslust verloren hatten? Zermürbt blickte Oleg in die deutschen Gesichter. Plötzlich schob sich das Gesicht eines jungen Deutschen in den Reihen nach vorn. Er trug einen Verband um den Kopf. Aber es waren die Augen unter dem Verband,die Oleg ansahen und trafen. Oleg las darin die Qual, die innerliche Verletzung, die trostlose Ausweglosigkeit. Der junge Soldat hatte die Arme um die Schultern von zwei andern Deutschen gelegt. Die halfen ihm auf der vereisten Straße weiter, an der entehrenden Stille entlang.
Oleg hielt das nicht mehr aus. Hinter sich spürte er den Hass und die Verbitterung seiner russischen Landsleute. Um ihn her standen die zerbombten Häuser der fast schon gestorbenen Stadt. Doch auf einmal fühlte Oleg, dass er in diesem Augenblick etwas gutzumachen hatte, dass dies der Augenblick war, um allen zu zeigen, dass es auch gute Deutsche gab.
Für das, was Oleg tat, war sehr viel Mut nötig. Er bot Hunderten von Menschen an der Straße die Stirn. Aber er tat es. Er sprang vom Bürgersteig und rannte auf den jungen verwundeten Deutschen zu. Er holte die Schokolade aus der Tasche und hielt sie ihm vor die bekümmerten Augen. Ein Schock schien durch die Reihen zu gehen. Dann leuchteten die Augen des Deutschen auf.
Er sah Oleg an und nickte ihm seinen Dank mit einem Lächeln zu.
Dann war er vorüber. Aber Oleg würde diesen Blick niemals vergessen. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit starrte er den Deutschen nach. Es schien fast unglaublich, dennoch war es so: Ein kleines Stück Schokolade hatte den dumpf dahinschlurfenden Schritten der deutschen Kriegsgefangenen etwas mehr Kraft verliehen.
Langsam ging Oleg zu seinem Platz zurück. Er wagtenicht aufzublicken, denn er fühlte Hunderte von Augen vorwurfsvoll auf sich gerichtet und hörte von allen Seiten tadelnde Stimmen:
»Junge, bist du ein Russe?«
»Diese Schweine, wie konntest du das tun?«
Da spürte Oleg eine Hand auf seiner Schulter und in einem Augenblick der Stille sagte eine Frauenstimme, für jeden deutlich zu hören: »Das hast du gut gemacht, mein Junge!«
Oleg drehte sich um. Eine alte Frau sah ihn an. Sie hatte ein Gesicht voller Furchen, halb von einem schwarzen Kopftuch verhüllt, doch die kleinen Augen blickten hell. »Das hast du gut
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