Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Kleinigkeiten so aufregten. Der arme Diener im Stück war gar nicht so bedauernswert, wenn man bedachte, was täglich in Leningrad geschah. Das Mädchen, das sich gegen den strengen Onkel auflehnte, war eigentlich auch nicht so mutig, wenn man nur einmal an die Frauen und Kinder dachte, die beim Anmarsch der Deutschen schwere Eisblöcke aufeinandergestapelt hatten, um dem Feind den Weg zu versperren – und das, während Bomben und Granaten auf sie niederregneten. Und was machte es schon, ob das tüchtige Mädchen auf der Bühne krank wurde, wenn in der Wirklichkeit Zehntausende hungers starben?
Oleg saß zusammengesunken auf seinem Stuhl. Er versuchte auf die Bühne zu schauen, doch immer wieder gingen seine Gedanken eigene Wege, zu seiner Mutter, zu Onkel Wanja, der alle Kinder retten wollte, zu dem deutschen Kommandanten, der sich so vielMühe gemacht hatte, Nadja sicher zurückzubringen, nur damit sie zwei Tage später doch starb.
Nadja . . . Wenn sie jetzt neben ihm säße, hätte sie bestimmt die komischsten Dinge über all die Schauspieler in ihren dicken Mänteln gesagt. Das hätte wenigstens noch etwas zum Lachen gegeben.
Auf der Bühne plätscherte das Stück vor sich hin, doch Oleg konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er dachte wieder an all das Essen, das er vor dem Krieg hatte stehen lassen.
Manchmal wandte sich Oleg um und schaute sich die andern Kinder an. Dann fühlte er ganz deutlich die Spannung im Saal. Doch die entstand nicht durch das Stück und kam ebenso wenig von den Schauspielern. Alle Kinder beschäftigte nur die eine Frage: ›Kriegen wir nachher was zu essen?‹
16
Als der Vorhang fiel, vergaßen die meisten Kinder zu klatschen. Mochten die Schauspieler auch ihr Bestes gegeben haben, den Hunger, das intensive Verlangen nach Essen hatten sie nicht vergessen machen können.
Fast alle Kinder im Saal waren sofort nach dem Stück aufgestanden. Voller Erwartung schauten sie sich um. Ob sie etwas bekämen? Während der Vorstellungwar so oft davon geflüstert worden, dass es gar nicht anders sein konnte.
»Sitzen bleiben! Noch einen Augenblick sitzen bleiben!«, riefen die Frauen mit den Armbinden. Doch niemand achtete auf sie.
Manche Jungen boxten sich, um warm zu werden. Andere stampften kräftig mit den Stiefeln auf den Boden, um warme Füße zu bekommen.
Plötzlich entdeckte Oleg Onkel Wanja. Er stand hinten im Saal und sagte etwas zu ein paar Kindern, die zu lachen anfingen.
»Onkel Wanja! Onkel Wanja!« Oleg rief, so laut er konnte, doch Onkel Wanja hörte ihn nicht.
»Sitzen bleiben. Warten, bis ihr an der Reihe seid!« Die Frauen mit den Armbinden liefen geschäftig hin und her. Die ersten Reihen wurden aus dem Saal geführt. »Kriegen wir Essen?«, fragte ein Mädchen.
»Hinsetzen! Auf den Plätzen bleiben!«
Es dauerte lange, aber endlich kam auch Olegs Reihe dran. Folgsam liefen die Kinder hinter einer Frau mit Armbinde her. Oleg sah an den Gesichtern um sich her, dass alle etwas erwarteten. Suppe? Ein Stück Brot? Eine kleine Nascherei?
Sie verließen den Saal und kamen ins große Foyer . . . Auf einmal war es, als ob ein Schauer des Entzückens durch die Reihe ginge: In der Halle standen lange gedeckte Tische mit brennenden Kerzen darauf und allem, was man zu einer Mahlzeit brauchte: Suppenteller, flache Teller, Messer, Gabeln und Löffel. Leises Summen stieg aus den Reihen der Kinder auf.
»Essen! Wir kriegen was zu essen!«
Sie wurden vorwärtsgeschoben.
»Aufschließen! Dicht aufschließen!«
Oleg war einen Augenblick stehen geblieben. Es war ein schönes Bild: die gedeckten Tische, die vielen brennenden Kerzen und all die Kinder, die sich mit großen, erwartungsvollen Augen an die Tische schoben.
Oleg saß zwischen dem Mädchen mit dem schönen Kleid unter dem verschlissenen Mantel und einem Jungen, der etwas älter war als er. Um ihn her erklangen gedämpfte Stimmen.
»Was werden wir kriegen?«
»Bestimmt Suppe.«
»Rübensuppe?«
»Sicher nicht! Es ist doch Weihnachten.«
An einem Tisch weiter oben wurde bereits gegessen. Alle reckten die Hälse, um zu sehen, was es dort gab. Jetzt kamen die Frauen mit großen, dampfenden Töpfen. Sie schöpften auf. Suppe! Aber keine Rübensuppe – es war gute Suppe! Alles Mögliche schwamm darin, sogar Fleisch. ›Ob ich eine große Portion bekomme?‹, überlegte Oleg. Der Junge neben ihm hatte Pech. Die Suppe reichte nicht einmal bis an den Innenrand des Tellers. Aber Oleg bekam eine volle Kelle. Sein
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