Olga & Lust und Leid
nicht aufzufallen.
Deutschland war noch immer eines der modernsten und freiesten Länder. Daran hatte sich seit dem letzten Besuch nichts geändert.
Schon vor einhundert Jahren, als ich zusammen mit unserer Familie erstmals hierherkam, erschien mir Deutschland außergewöhnlich technisiert und ordentlich. Russland war da ganz anders.
Inzwischen gab es jedoch auffällig viele Arme und andererseits eine große Schar wohlhabender Menschen. Die Berliner wirkten unzufriedener. Das Land näherte sich unweigerlich den amerikanischen Verhältnissen an und würde in fünfzig Jahren ein ganz anderes sein.
Die Zahl verschleierter Frauen, die sich demonstrativ zum Islam bekannten, war groß. Ihr Auftreten in Gruppen erschien selbst mir bedrohlich. Kürzlich las ich, dass einige Muslime in Berlin sogar heimlich nach der Scharia richteten und deutsche Behörden dies zunehmend tolerierten.
Ähnlich schleichend hatte der Wandel bei uns begonnen. Unsere gebildeten Demokraten zeigten Verständnis für diejenigen, die unser System ablehnten. Diese hatten das jedoch in ihr Kalkül einbezogen.
Solche Wandlungen sind Bestandteile des immer größer werdenden Schmerzes der Einsamkeit. Ein sehr langes oder gar unendliches Leben hat mehr Probleme, als man gemeinhin glaubt, da sich alles drumherum unablässig verändert.
Mama war hier geboren worden und wir hatten vor dem ersten Weltkrieg unsere zahlreichen Verwandten besucht. Unsere Mutter bestand akribisch darauf, dass wir alle Deutsch lernten. Der verbliebene Akzent verdeutlichte aber, dass ich im Kern immer noch Russin war. Mein Drang nach Ordnung und Planung musste jedoch vom deutschen Teil in mir stammen.
Es gab im heutigen Berlin zwar auch Menschen guter Gesinnung, aber überall roch ich Hass, Gier und Bosheit. Selbstsucht und Egoismus uferten immer weiter aus und hatten die Menschen verdorben. Somit gab es genug Abwechslung, böses Blut und Arbeit für mich. Der kleine Aderlass blieb in der pulsierenden Millionenschar ohne Bedeutung. Ich fiel nicht auf und tat alles, damit es so blieb.
Die Detektei war mit meiner bisherigen Arbeit zufrieden und ließ mich deshalb ausschließlich sehr spezielle Aufträge verrichten. Begann erst einmal die Jagd, waren Ergebnis und Erfolg nur eine Frage der Zeit. Da ich alles ohne die heute übliche Hektik leistete und auch nicht durch eine hohe Zahl von gelösten Fällen Aufsehen erregen wollte, lehnte ich Aufträge ab, die nicht in mein Schema passten.
Ich befand mich gerade im frühnächtlichen Nikolaiviertel, das im Moment bei einer bestimmten, vergnügungssüchtigen Gesellschaftsschicht angesagt war. Einige Aufsehen erregende Eröffnungen mit entsprechender medialer Bewerbung hatten dazu beigetragen.
Man traf hier im Moment sowohl Politiker, Ärzte, Anwälte, Zuhälter, Bankiers, Vorstände und diverse verborgene Kriminelle anderer Couleur als auch deren jeweilige Begleitung. Viele gut aussehende Frauen und um Männer buhlende Jungen versuchten dies für ihre Zwe cke zu nutzen. Mein letztes Opfer, das Mädchen, hatte ich aus einem anderen Stadtteil erwählt. Man hatte ihr Verschwinden bisher nicht einmal bemerkt oder glaubte, sie reise irgendwo in der Welt herum. Eine kurze Mitteilung auf dem Anrufbeantworter ihres Komplizen ließ diesen Eindruck entstehen. Das war der Grund, warum ich ihn verschonte. Er diente vorerst als Alibi.
Es wurde Zeit, dass ich mich auf die Suche nach einem neuen Opfer machte. Der Bluthunger war schon riesig. Diese Gier würde von Tag zu Tag größer werden und mehr und mehr die Kontrolle über mich gewinnen. Ich musste rechtzeitig aktiv werden. Abgelagerte Konserven waren nicht mit frischem Blut zu vergleichen.
Dieses Viertel erinnerte mich wegen seines Namens natürlich an Vater. Nostalgie war die Nahrung für den kleinen Rest der verbliebenen Identität. Was bleibt sonst, wenn Liebe unter Leid und kaltem Hass verschlossen ist?
Viele kleine Restaurants und Szenebars luden die Nachtschwärmer zu Vergnügungen der verschiedensten Art ein. Einige lieferten auch kleinere Varietéaufführungen, die in Berlin sehr beliebt waren. Es wimmelte darin von Transvestiten und anderen bunten Vögeln.
Ich mochte das nicht unbedingt. Meinem russischen Teil erschienen diese Verkleidungen oberflächlich und lächerlich. Als Frauen geschminkte und sich so gebende Männer erweckten in mir mehr Ekel und Abscheu. Da auch ich nicht dem Plan der Natur entsprach, zwang ich mich zur Toleranz und schaute einfach weg.
In der Nähe des
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