Oliver Twist
allen.«
»Halten Sie den Mund, Kirchspieldiener«, rief der zweite alte Herr, als Mr. Bumble in seiner Rede innehielt.
»Ich bitte Euer Gnaden um Entschuldigung«, stotterte Bumble, der seinen Ohren nicht traute. »Haben Euer Gnaden zu mir gesprochen?«
»Jawohl! Halten Sie den Mund!«
Mr. Bumble war sprachlos vor Entsetzen. Einem Kirchspieldiener zu befehlen, den Mund zu halten! Das hieß ja aller menschlichen Moral ins Gesicht schlagen!
Der alte Herr mit der Schildpattbrille blickte seinen Kollegen an und nickte bezeichnend.
»Wir verweigern, diesen Kontrakt zu bestätigen«, sagte er dann und schob das Papier zur Seite.
»Ich will doch nicht hoffen«, stammelte Mr. Limbkins, »ich will doch nicht hoffen, daß der hohe Gerichtshof der Meinung ist, der löbliche Arbeitsvorstand könne auf das Zeugnis dieses Kindes hin irgendeiner tadelnswerten Handlung bezichtigt werden?«
»Ich sehe mich als Friedensrichter nicht berufen, darüberirgendeine Meinung abzugeben«, erwiderte der alte Herr. »Nehmen Sie den Knaben wieder mit heim und behandeln Sie ihn gut. Er scheint es sehr nötig zu haben.«
Am selben Abend noch gab der Gentleman mit der weißen Weste nicht nur die positive Versicherung ab, Oliver würde bestimmt noch einmal an den Galgen kommen, sondern er fügte sogar die Prophezeiung hinzu, man werde ihn vorher noch schinden und vierteilen. Auch Mr. Bumble schüttelte geheimnisvoll den Kopf und äußerte den Wunsch, Oliver werde sich dereinst im Leben noch bessern, während Mr. Gamfield bedauerte, ihn nicht in seine Klauen bekommen zu haben. Am nächsten Morgen wurde abermals durch einen Anschlagzettel kundgegeben, daß Oliver Twist »zu haben sei«, und daß jeder, der ihn nehmen wolle, dafür fünf Pfund bekäme.
VIERTES KAPITEL
Oliver erhält eine Stelle und tritt ins öffentliche Leben ein
Die Herren Vorstände hatten Mr. Bumble beauftragt, sich zu erkundigen, ob nicht vielleicht ein Stromschiffer einen Lehrjungen brauche. Es war im allgemeinen üblich, Waisenkinder oder solche, die man gern loswerden wollte, zur See zu schicken. Als der Kirchspieldiener zurückkehrte, traf er vor dem Tore zufällig Mr. Sowerberry, den Leichenbestatter des Kirchspiels. Mr. Sowerberry war ein großer hagerer knochiger Mann in einem schwarzen fadenscheinigen Anzug, mit schäbigen Baumwollstrümpfen gleicher Farbe und dementsprechendem Schuhzeug angetan. Schon von Natur aus trugen seine Züge nicht gerade einen lächelnden Ausdruck, aber zufällig befand er sich heute in der heiternLaune, die sein Gewerbe mit sich brachte. Sein Schritt war elastisch, und sein Antlitz zeugte von innerem Frohsinn, wie er so auf Mr. Bumble zuschritt und ihm herzlich die Hand schüttelte.
»Ich habe den beiden Frauen Maß genommen, die wo gestern nacht gestorben sin, Mr. Bumble«, sagte er.
»Sie werden noch mal ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry«, bemerkte Mr. Bumble und steckte Daumen und Zeigefinger in die hingereichte Schnupftabakdose des Leichenbestatters, die sinnig ein kleines Modell eines Sarges darstellte. »Ich sags immer, Sie werden noch einmal ein reicher Mann, Mr. Sowerberry«, wiederholte Mr. Bumble und klopfte dem Leichenbestatter vertraulich auf die Schulter.
»Glauben Sie?« fragte der Leichenbestatter in einem Ton, halb zustimmend, halb ablehnend. »Die Kosten, die wo mir die Herren Vorstände bewillichen, sin sehr niedrich.«
»Ihre Särge aber auch«, erwiderte der Kirchspieldiener und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, das seiner hohen Stellung angemessen war.
Mr. Sowerberry fühlte sich durch diese Herablassung nicht wenig geschmeichelt und lachte eine Weile geziemend.
»Nun ja, Mr. Bumble«, sagte er schließlich. »Zu leuchnen ist freilich nich, daß seit Einführung des neuen Systems die Särge niedricher und kürzer geworden sind, als sie sonst waren, aber schließlich muß man sie doch haben, Mr. Bumble. Gutes trockenes Holz ist nich billich, und die Beschläge beziehe ich direkt aus den Eisenfabriken in Birmingham.«
»Jawohl, jawohl, ich weiß, ich weiß«, sagte Mr. Bumble. »Jedes Geschäft hat so seine kleinen Kniffe, und das nimmt man auch nicht übel.«
»Natürlich nich, natürlich nich«, stimmte der Leichenbestatterein. »Wenn auch bei meinem Artikel nich viel zu verdienen is, so muß ich eben schauen, es anderswo wieder hereinzubringen – hihihi.«
»Sehr richtig«, sagte Mr. Bumble. »Übrigens so nebenbei: wissen Sie nicht jemanden, der einen Lehrjungen brauchen könnte;
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