Oliver Twist
beteuerte, daß er durchaus nicht heikel sei; und daraufhin wurde ihm eine Schüssel Speiseabfälle vorgesetzt.
Wenn da nur so ein gewisser sattgefressener Theoretiker mit einem Herzen von Stein zugesehen hätte, wie sich Oliver Twist über das Futter hermachte, das für den Hund bestimmt war, und die Gier, mit der er die Bissen auseinanderriß – halb ohnmächtig von Hunger. Noch besser, wenn ein solcher Theoretiker selbst einmal gezwungen wäre, sich über eine derartige Sorte Futter herzumachen . . .
»Na?« fragte die Frau Leichenbestatterin, als Oliver mit allem gründlich aufgeräumt hatte, stumm vor Entsetzen und böser Ahnung, wie das mit dem Appetit des Lehrjungen in Hinkunft weitergehen würde. »Na, bist du jetzt fertig?«
Da nichts Eßbares mehr vorhanden war, antwortete Oliver mit »Ja«.
»Also, dann komm mit«, brummte Mrs. Sowerberry, nahm eine trübbrennende schmutzige Lampe und ging ihm die Treppe voraus hinauf. »Da hier unter dem Ladentisch ist ein Bett. Hoffentlich machst du dir nichts daraus, in den Särgen zu schlafen, was? Aber mir kann’s gleichgültig sein, ob dir’s etwas ausmacht oder nicht. Kurz und gut: hierist dein Bett. So, jetzt mach dich fertig, ich hab’ keine Lust, die ganze Nacht hier zu stehen.«
Schüchtern und schweigend gehorchte Oliver.
FÜNFTES KAPITEL
Oliver bekommt einen neuen Horizont und wohnt zum erstenmal einem Leichenbegängnis bei
In der Werkstätte des Sargtischlers sich selbst überlassen, setzte Oliver seine Lampe auf eine Werkbank, von Furcht und Grauen durchschauert. Ein fertiger Sarg auf einem schwarzen Gestell mitten im Laden erinnerte ihn so sehr an den Tod, daß ihn ein kalter Schauer überlief, sooft sich sein Blick hinverirrte, und zuweilen kam es ihm so vor, als müsse jeden Augenblick eine entsetzliche Gestalt langsam ihre Hand erheben und ihn aus dem Sarge heraus anstarren, bis er wahnsinnig vor Furcht würde. Die Wand entlang in regelmäßigen Reihen stand eine Menge Bretter aus Ulmenholz, alle ebenfalls zu Särgen bestimmt. Bei dem trüben Licht sahen sie wie hochschultrige Gespenster aus, die die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatten. Sargplatten, Holzspäne, langköpfige Nägel und Stücke Trauerflor lagen auf dem Boden umher. Die Wand hinter dem Ladentisch war mit einem Bild geschmückt, das zwei Leichendiener mit steifen Kragen, die vor dem Portal eines Privathauses ihr Amt versahen, darstellte, während ein Leichenwagen, von vier schwarzen Pferden gezogen, aus der Ferne herangefahren kam. Der Laden war eng und heiß und die ganze Luft gesättigt von dem Geruch von Särgen. Der Verschlag unter dem Ladentisch, wo für Oliver eine Wollmatratze ausgebreitet lag, sah aus wie ein Grab.
Oliver fühlte sich trostlos allein und verlassen, und wenner auch keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm doch das Herz unsäglich schwer. Und wie er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er sich, es möchte sein Sarg sein und man trüge ihn hinaus auf den Kirchhof, wo das hohe stille Gras über ihm im Winde säuselte und das Läuten der alten Kirchturmglocken ihn träumen machte in süßem Schlummer.
Am nächsten Morgen erweckten ihn laute Fußtritte gegen die Außenseite der Werkstättentüre. Er sprang auf und begann die Vorhängkette zu lösen; da erst ließen die Füße von ihren Tritten ab und eine Stimme rief: »Mach die Tür auf, na, wird’s bald!« »Sofort, Sir«, erwiderte Oliver, machte die Kette gänzlich los und drehte den Schlüssel um.
»Du bist wohl der neue Lehrbursch, was?« fragte die Stimme durch das Schlüsselloch.
»Ja, Sir«, antwortete Oliver.
»Wie alt bist du denn?« fragte die Stimme weiter.
»Zehn Jahre, Sir.«
»Dann werd’ ich dich durchprügeln, wenn ich hineinkomme«, prophezeite die Stimme. »Gib nur acht, wenn ich erst drin bin, du Zuchthäusler.«
Nach diesem liebenswürdigen Versprechen schwieg der unsichtbare Mund und begann zu pfeifen.
Oliver hatte schon zu oft das angedrohte Schicksal über sich ergehen lassen, um noch den leisesten Zweifel zu hegen, daß der Besitzer der Stimme, wer er auch sein möge, sein Versprechen halten werde. Mit zitternder Hand schob er den Riegel zurück und öffnete die Türe.
Ein paar Sekunden lang blickte er die Straße auf und ab, im Glauben, der Unbekannte, der ihn durch das Schlüsselloch angeredet, sei ein paar Schritte weitergegangen, um sich zu erwärmen, aber er erblickte niemand als einen Waisenjungen aus dem
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