Olivers Versuchung
wusste, was sie durchmachten. Ihr Herz weinte für diese Frauen, weil es nicht in der Lage war, für sich selbst zu weinen. Nein, sie konnte es sich nicht erlauben, sich zu bemitleiden, denn sonst würde sie ihre Entschlossenheit und ihre Kraft verlieren.
Die Hände des Vampirs wurden weniger zielsicher, so wie die Bewegungen eines Betrunkenen schließlich unkoordiniert wurden. Bald würde er von ihr ablassen. Bald würde ihre Qual vorbei sein.
Ein Knistern aus dem Walkie-Talkie drang plötzlich zu Ursulas Bewusstsein durch. Dann kam eine Stimme aus dem Gerät.
„Rotes Zimmer, ich brauche Hilfe. Sofort! Der Kunde greift das Mädchen an! Ich brauche Verstärkung!“
Dirk sprang fluchend von seinem Sofa hoch. „Scheiße! Ich bin unterwegs.“
Er lief zur Tür und öffnete sie, als ein Schrei vom anderen Ende des Flurs ertönte, wo sich das rote Zimmer befand.
„Fuck!“
Dann wurde die Tür zugeschlagen und Dirk war verschwunden.
Ursula wartete ein paar Sekunden, lauschte aufmerksam, aber kein weiterer Laut kam von der Tür: Er hatte nicht abgesperrt.
War das ihre Chance?
3
Ursula versuchte, sich vorsichtig unter dem großen Vampir zu bewegen und testete gleichzeitig, wie reaktionsfähig er war. Sie nahm einen seiner Arme, hob ihn hoch und bemerkte, wie bereitwillig er sich von ihr leiten ließ.
„Oh, ja“, stöhnte sie. „Nimm mehr!“
Er musste mehr von ihrem Blut trinken, damit sie ihn überwältigen konnte. Sie hatte die Wirkung, die ihr Blut hatte, bei mehreren anderen Vampiren gesehen. Wenn die Wache nicht rechtzeitig eingriff – sei es bei einem Neukunden oder jemandem, der noch nicht an ihr Blut gewöhnt war – konnte der Blutsauger wie ein Betrunkener ohnmächtig werden. Sie hoffte, diesen Vampir dazu zu bringen, auf die gleiche Weise zu erliegen.
Aber es musste schnell gehen. Dirk würde nicht für immer weg bleiben, und was in dem roten Zimmer passierte, würde schließlich und endlich geregelt werden. Dann würde er zurückkehren, und ihre Chance zu entkommen würde sich im Nu in Rauch auflösen.
In dem Bemühen, den Vampir dazu zu bringen, mehr von ihrem Blut zu nehmen, drückte sie ihr Becken gegen ihn und legte ihre Hand auf seinen Hintern. Sie packte fest zu. Sie wusste inzwischen genug über Vampire, dass ihr klar war, dass deren sexuelle Triebe eng mit deren Drang, sich zu ernähren, verbunden waren. Je mehr sie ihn antörnte, umso fester würde er an ihrer Vene saugen, und desto mehr Blut würde er trinken. Und desto schneller konnte sie ihm eine Überdosis verabreichen.
Warum ihr Blut und das der anderen Frauen diese Eigenschaft hatte, wusste sie nicht. Und in diesem Augenblick kümmerte es sie auch nicht. Alles, was im Moment wichtig war, war, wie schnell sie ihn betäuben konnte.
„Das ist gut, mehr!“, ermutigte sie ihn und hörte ihn zur Antwort stöhnen.
Seine Hand bewegte sich hoch, als ob er ihr Gesicht streicheln wollte, aber fiel stattdessen schlaff auf das Sofakissen.
Ein weiterer Schrei aus dem Zimmer am Ende des Korridors sandte eine Schockwelle durch ihren Körper. Dann hörte sie Schritte im Flur. Nein!
Bitte lass es nicht Dirk sein!
Sie hielt den Atem an, aber zu ihrer Erleichterung rannte die Person an ihrem Raum vorbei, und das Geräusch der Fußstapfen wurde immer schwächer. Jetzt oder nie! Wenn eine weitere Wache im roten Zimmer aushalf, würde Dirk nicht mehr benötigt werden und zurückkehren.
Plötzlich spürte sie, wie der Vampir schlaff wurde. So vorsichtig sie konnte griff sie seinen Kopf und drückte ihn langsam von sich weg, damit er sie nicht mit seinen Fängen verletzen konnte. Aber sie hätte keine Befürchtungen haben müssen: Seine Fangzähne waren schon wieder eingefahren. Allerdings war er ohnmächtig geworden, bevor er die Wunde an ihrem Hals geleckt hatte. Deshalb blutete sie. Hätte er sie geleckt, dann hätte sein Speichel die Wunde versiegelt und die Blutung gestoppt.
Mit all ihrer verbleibenden Kraft – und es war nicht mehr viel, da sie bereits die Auswirkungen des Blutverlustes spürte – rollte sie ihn zur Seite, sodass sie unter ihm hervor rutschen konnte. Schwer atmend setzte sie sich auf, aber sie hatte keine Zeit, um Atem zu holen. Dirk konnte jede Sekunde wieder kommen.
Sie sprang auf und ihre Knie knickten fast ein, aber mit all ihrer Willenskraft trieb sie sich an, hielt dabei eine Hand gegen die blutende Halswunde gedrückt, die andere vor sich ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Da sie wusste, dass sie
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