Oma ihr klein Häuschen
tuscheln. Jetzt bittet die Sängerin die Leute mit einer stummen Geste, sich zu erheben, was erstaunlicherweise alle tun. Viele ältere Männer kennen noch die alten Bräuche und nehmen ihre Kopfbedeckung ab. Die Sängerin schließt die Augen und fängt ganz leise an zu singen:
Protschaj moj drug,
moj dorogoj,
tebja zabyt ne smoschem my,
poslednij put,
poslednije slowa …
Johannes’ russische Kollegen singen leise mit. Einer von ihnen übersetzt flüsternd hinter mir: «Auf Wiedersehen, mein Freund, mein lieber Freund, dich werden wir nicht vergessen, dein letzter Weg, die letzten Worte …»
Hansen will weiter, er gibt seinen Leuten ein Zeichen. Ich glaube, er ist froh, wenn wir heil bei der Fähre angekommen sind, ohne dass er seine Lizenz verliert. Doch John findet, dass es zu früh ist, und baut sich mit verschränkten Armen vor seiner Motorhaube auf, woraufhin Hansens Leute im Wagen ihn fragend ansehen. Als Antwort deutet John nur stumm mit dem Kopf zur Kurmuschel.
Nach Beendigung des Liedes bekreuzigt sich die Sängerin, und John gibt den Leichenwagen frei. Wir schreiten nun auf dem Sandwall, der Hauptpromenade von Wyk, entlang. Wegen des guten Wetters ist es fast so voll wie in der Hauptsaison. Alle finden eine kleine Geste, um unseren Trauerzug zu würdigen: Vor dem Traditionscafé Steigleder erheben sich ein paar Touristen von ihren Stühlen, bei Friseur Pohlmann schneidet einen Moment lang niemand die Haare, im Bücherladen bu-bu bleibt die Kasse zu, und in der Pinte wird die Musik heruntergedreht. Selbst vor dem Schild
Lecker! Lecker! Bratwurst
lassen die Menschen die Würste liegen, bis wir vorbeigezogen sind. Dann passieren wir in der Königstraße den Supermarkt der Gebrüder Stammer.
Letzter Kaufmann vor Dagebüll
, lese ich neben der Eingangstür.
Vor der Fähre wartet wie immer eine Menge Autos mit Fahrrädern auf dem Dach. Wir ordnen uns hinter dem Leichenwagen in einer Extraspur ein. Nachdem alle Ankommenden das Schiff verlassen haben, überprüfen die Männer an Bord kurz, ob das Deck frei ist, dann stellen sie sich links und rechts neben die Rampe, nehmen ihre weißen Mützen ab und halten sie sich vor den Bauch.
Es braucht keine Worte oder weiteren Gesten.
Hansen rollt langsam mit dem Wagen an Bord. Im selben Moment gehen die Flaggen auf der Brücke auf halbmast und werden es die ganze Überfahrt lang bleiben.
Maria umschließt mit ihrer Hand meinen Zeigefinger und lässt den Kopf auf meine Schulter fallen.
«So möchte ich auch mal verabschiedet werden», flüstert sie leise. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen, das ist wahr. Umso schöner, wenn man mit ihr so ein Glück hat wie ich.
Wir Riewerts stehen eng beieinander und schauen der Fähre stumm nach, bis sie eine Dreiviertelstunde später auf der anderen Seite angekommen ist.
Oma ist sicher, dass es Johannes gutgeht.
So sei es.
Epilog
Hornbrillen aus Russland
Ein gutes halbes Jahr später.
Ich stehe an einem Pfeiler der dunkelblauen Stahlbrücke und schaue in den Nieselregen, der im Wyker Fährhafen vor mir niedergeht. Das graue Nordseewasser sieht nicht gerade nach Karibik aus, und es spielt auch keine kubanische Band hinter mir, wie auf dem Feld in der Nähe von Hamburg, auf dem die 100 Reihenhäuser inzwischen bezugsfertig sind.
Es ist ein ungewöhnlicher Donnerstagmorgen im April. Die Ebbe ist wegen des Ostwindes zu niedrig abgelaufen, die
MS Rungholt
steckt ungefähr dreißig Meter vom Kai entfernt im Schlick fest. Erst in ungefähr zwei Stunden wird die Flut wieder eine Handbreit Wasser unter die Autofähre setzen, sodass sie die fehlenden Meter bis zum Anleger schafft. Was mich äußerst nervös macht, denn heute soll meine erste größere Tat als Mitarbeiter der Föhrer Kurverwaltung Wirklichkeit werden. Als Neuling haben sie mir natürlich die schwierigste Aufgabe gestellt: die Insel im Winter zu vermarkten. Und das ist mir gelungen. An Bord der
MS Rungholt
befinden sich fünfzig Werbetexter, -graphiker , Creativ-Direktoren, Junior- und Seniortexter und wie die sich sonst alle nennen. Die Agentur heißt Nordpol und ist zurzeit sehr angesagt in derSzene. Sie will auf Föhr ein Brainstorm-Wochenende verbringen.
Auf dem Achterdeck kann man genau sehen, wer Werber ist und wer nicht. Die Touristen tragen modische Jacken von Marken, die jeder kennt. Werber hingegen solche, die nur Eingeweihte kennen, und zwar bevor sie in Szenezeitschriften als neuer Trend vorgestellt werden. Außerdem würde nie
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