Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
der Mafiosi operieren.
Die Cosa Nostra blickt auf koordinierte und weniger koordinierte Phasen zurück; unterschiedliche Bosse vertraten unterschiedliche Führungsstile und sahen ihre Macht von diversen äußeren Beschränkungen beschnitten. Chaos, Betrug, gegenseitige Verdächtigungen und Bandenkriege sind seit jeher Konstanten in der Mafia. Die Spannbreite der Charaktere ist groß. Es gibt natürlich Parteiführer, Entscheidungsträger, Reformer und Rechtsverdreher. Doch auch etliche Rebellen, graue Eminenzen, ungeduldige Bonzen, »junge Türken« und Isolationisten. Und natürlich ist
jedes
Mitglied der Mafia sowohl ein Verschwörer als auch ein nahezu paranoider Verschwörungstheoretiker. All diese Charaktere können Präzedenzfälle, Traditionen und Regeln der Mafia verbiegen; sie können sogar darauf herumtrampeln und sich darüber lustig machen. Doch kein Boss, sei er noch so mächtig, darf dabei den politischen Preis außer Acht lassen.
Eines der großen Themen bei der Erforschung der sizilianischen Mafia ist die Frage, wie alt die Pyramidenstruktur der Organisation eigentlich ist. Eine ziemlich verstörende Studie hat unlängst gezeigt, dass sie weitaus älter ist, als wir noch bis vor wenigen Jahren glaubten. Die Mafia wäre nicht die Mafia ohne das angeborene Bedürfnis, ihre Aktivitäten in eine strenge Form zu bringen und zu koordinieren. Die Kommission der Cosa Nostra in Palermo hat seit 1993 keine Versammlung mehr abgehalten, eine Tatsache, die symptomatisch ist für die schlimmste Krise in der 150 Jahre währenden Geschichte der Organisation. Ob diese Krise das endgültige Aus bedeutet, hängt zum Teil davon ab, welche Lehre Italien aus den Erkenntnissen über die Geschichte der sizilianischen Mafia und deren erstaunliche Regenerationsfähigkeit gezogen hat.
In Kalabrien existiert, wie in Sizilien, eine spannungsreiche Beziehung zwischen den Statuten der Organisation und den täglichen Anforderungen eines vom Chaos bestimmten kriminellen Lebens. Als ich mit diesem Buch begann, war die gängige Meinung – sowohl an den Gerichtshöfen als auch in den kriminologischen Lehrbüchern –, dass die Struktur der ’Ndrangheta sich grundlegend von jener der Cosa Nostra unterscheide. Die ’Ndrangheta, hieß es, sei
föderativ
organisiert, eine lose Gemeinschaft lokaler Banden.
Im Juli 2010 verhafteten Polizei und Carabinieri 300 Männer, einschließlich des 80 -jährigen Domenico Oppedisano, der nach Aussage der Ermittler im August 2009 zum Oberboss der ’Ndrangheta gewählt worden war. Seit ihrer Verhaftung berufen sich Oppedisano und die meisten seiner Komplizen auf ihr Recht zu schweigen. Wir können also nicht wissen, welche Argumente sie zu ihrer Verteidigung vorbringen werden. Ebenso wenig können wir wissen, ob die Gerichtshöfe die Anklagepunkte für stichhaltig erachten. Die Operation mit dem Decknamen
Il crimine
, das Verbrechen, steht erst am Anfang. Doch was auch immer ihr endgültiges Ergebnis ist, sie stellt einen jeden, der über die geheime Welt des italienischen Gangstertums zu schreiben versucht, auf eine harte Probe. Historische Gewissheiten können mit jedem Moment von neuen Ermittlungsergebnissen der Polizei oder von Entdeckungen in den vielen unerforschten Archiven über den Haufen geworfen werden.
Die für die Operation Crimine verantwortlichen Richter erklären, Oppedisano trage offiziell den Titel
capocrimine
, »Boss des Verbrechens«. Das »Verbrechen« oder das »Große Verbrechen«, das ’Ndranghetisti auch als die »Provinz« bezeichnen, gilt als das höchste Ordnungsgremium der ’Ndrangheta. Es besteht aus drei
mandamenti
oder Bezirken, die sich mit den drei Zonen der Provinz Reggio Calabria decken.
Viele Zeitungen in Italien und im Ausland, die über die Operation Crimine berichteten, porträtierten das Große Verbrechen als die ’Ndrangheta-Version der sizilianischen Mafiakommission und Domenico Oppedisano als einen kalabrischen
capo di tutti i capi
: also die Spitze der ’Ndrangheta-Pyramide. Doch dieses Bild deckt sich nicht mit dem der Ermittler. Sie beschreiben Oppedisano vielmehr als eine Art Zeremonienmeister, als Wortführer in einer Versammlung, als weisen alten Richter, dessen Aufgabe darin besteht, die Regeln auszulegen. Die Verantwortlichkeiten dieses Anführers umfassen verfahrenstechnische und politische Aufgaben. Das Geschäftliche ist nicht sein Ressort.
Allerdings können verfahrenstechnische und politische Pflichten in der italienischen
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