Omka: Roman (German Edition)
sah ihn ohne Argwohn an und sagte nach einer kurzen Pause: »Ich heiße Omka.«
»So einfach«, dachte er sich. Er fühlte sich, als stünde er in einem blauen Raum mit ihr, wo man ohne große Erklärungen auskam und wo Neugierde nicht falsch verstanden und Interesse am anderen ein zutiefst menschlicher Zug war. »Und Sie?«, fragte sie.
»Josef«, sagte er. Seinen Nachnamen ließ er weg.
»Möchten Sie mitkommen?«, frage sie.
»Wohin denn?«, fragte er und ärgerte sich über diese Frage.
»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie.
Sie saßen auf einer Bank im Park des Sankt Annenhospitals und sprachen miteinander. Es war wieder wärmer geworden, und als die Sonne zwischen den Wolken hervorblitzte, bekam man Lust, in die frische, grüne Welt zu laufen.
Josef war leicht zumute, weil sie nichts missverstand, manche Sachen verstand sie gar nicht. Sie fragte nur und wusste nichts. Er fühlte sich mächtig und mit ihr zusammen, als wäre die Welt neu. Sie war unbefangen und machte den Eindruck eines erwachsenen, sehr schönen Kindes.
»Weißt du«, sagte sie (sie waren schnell zum Du übergegangen), »die Ärzte haben gesagt, ich hätte Amnesie. Ich kann mich an nichts erinnern. Sie sagten, das käme von einem Trauma nach einem Schwimmunfall, dabei kann ich gar nicht schwimmen, glaube ich.« Sie lachte.
»Wie frische Luft«, dachte er und hatte ein Gefühl so ähnlich wie das, als er zum letzten Mal verliebt gewesen war.
Als er nach Hause kam, fühlte er sich verlassen, obwohl er keinen Grund dafür fand. Es war alles so, wie er es gewohnt war, sein Zuhause, sein Bett, seine Gedanken. Seine Brust tat weh, und er beschloss, eine Schmerztablette zu nehmen. Er kochte Tee, lag herum, trieb dummes Zeug und langweilte sich. Weil er das Büro für noch fünf Tage geschlossen hatte, wusste er nicht, was er Vernünftiges mit sich anfangen sollte. Obwohl er schon länger alleine lebte, schien ihm das große, helle Haus auf einmal seltsam leer. Damals war es seine erste Arbeit gewesen. Er hatte es von seiner kinderlosen Tante vererbt bekommen, und es stand unter Denkmalschutz, weshalb man es nicht erlaubt hatte, an der Außenfassade etwas zu verändern. Aber drinnen war es modern und geschmackvoll eingerichtet. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, umzuziehen, denn aus irgendeinem Grund hatte er immer Mitleid mit seiner Tante gehabt und wollte das Haus nicht verkaufen. Er ging viel spazieren. Omka fiel ihm immer wieder ein und dass er nicht einmal ihre Telefonnummer hatte, denn sie hatte ja kein Telefon. Die Idee, dass er sie einfach anrufen könnte, ohne ihr einen Grund dafür zu sagen, gleich Absichten bekunden zu müssen, und ihr sagen konnte, dass er nur angerufen hatte, weil er sie gerne hören würde, ohne dass sie sich auch nur die kleinste Kleinigkeit dabei dachte und keinen Hintergedanken hatte, freute ihn.
Und was für ein Rätsel sie dabei doch war. Sie hatte wirklich alles vergessen, war wie gerade eben zur Welt gekommen, dabei aber bestimmt schon Mitte dreißig, obwohl sie mit ihren großen, tiefen Augen, dem kurzen Abstand zwischen Nase und Kinn und der hohen Stirn etwas sehr Kindliches hatte. Bestimmt war sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder versichert noch besaß sie eigenes Geld. Wie das wohl alles funktionieren würde, denn immerhin war sie ja im Krankenhaus, und die Behandlung und der Aufenthalt mussten bezahlt werden.
Schließlich fiel ihm ein, dass sie ein Telefon im Krankenzimmer hatte, und er wusste schließlich ihre Zimmernummer, und ihren Nachnamen wusste sie selbst nicht. Er stürzte zum Telefon, wählte die Vermittlung, nannte die Zimmernummer und den Stock und wurde verbunden. Eine Frau nahm ab, sie hatte eine sehr hohe Stimme und hauchte ein »Ja hallo, Hofer« ins Telefon. Da legte er auf. Verwirrt darüber, dass sie offenbar nicht mehr im Krankenhaus war, begann er, nachzudenken.
Omka lag in einem neuen Bett und freute sich. Sie hatte keine Sorgen und sah sich ihre Hände an und lachte leise, weil es sie gab. Nur die Beine taten ihr weh, als ob man mit einer Klinge an der Innenseite ihrer Schenkel auf- und abfahren würde. Man hatte die Infusionsflasche abgenommen. Bei der Visite am Morgen kamen Ärzte und Studenten und standen um ihr Bett.
»Hier haben wir eine Patientin mit retrograder Amnesie wahrscheinlich in Folge einer akuten Belastungsstörung«, sagte einer der Ärzte. »Bisher keine Therapie.« Die Studenten sahen einander an. Einer hob die Hand.
»Wie ist das
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