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Omka: Roman (German Edition)

Omka: Roman (German Edition)

Titel: Omka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Aschenwald
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zusammen, und ihr Oberkörper rutschte nach rechts, bis er auf der Bank lag. An den Innenseiten ihrer Beine waren rote Striemen. Sie begannen an den Knien und lagen wie zwei rote Wollfäden bis zu den Fußknöcheln auf der weißen Haut.
    Die Polizei sagte zu den Sanitätern: »Das ist eure Sache.«
    Der Einsatzleiter war froh. Er hätte nicht gewusst, was er mit der Frau hätte machen sollen, wenn die Polizei sie hätte mitnehmen müssen. Immerhin wusste man nicht, ob man es hier mit einer geistig Verwirrten, einem Unfallopfer oder dem Opfer eines Gewaltverbrechens zu tun hatte. Es war Wochenende.
    Die Sanitäter hoben sie auf und brachten sie ins Krankenhaus. Es hieß Sankt Annenhospital. Die Stationen waren brechend voll, weil gerade eine Grippeepidemie ausgebrochen war. Sie war verwirrt und nicht bei sich, sodass man die Notversorgung vornahm, ohne etwas von ihr zu wissen. Sie kam mit dem Verdacht auf einen Schwimmunfall auf die Intensivstation. Man maß die Sauerstoffsättigung in ihrem Blut mit einem Lasergerät an ihrem Finger und stellte fest, dass kein Wasser in der Lunge sein konnte. Nach einigen Untersuchungen fand man keine Anzeichen dafür, dass die Lunge Schaden genommen hatte oder man mit Spätfolgen eines Schwimmunfalls zu rechnen hätte. Sie wurde daraufhin auf die Gynäkologie verlegt, weil sonst kein Bett frei war und ohnehin niemand wusste, wohin mit ihr. Als sie am Morgen aufwachte, kam eine Krankenschwester und brachte ihr etwas zu essen.
    »Sie sind also aufgewacht, meine Liebe«, sagte sie. »Ich bin Schwester Marie. Wir wollten Sie jetzt noch bitten, diesen Zettel auszufüllen – vor allem Name, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer und Adresse – vielleicht auch eine Telefonnummer, damit wir Ihre Angehörigen anrufen können.«
    Omka sah sie nur an und dann auf das Blatt. Die Krankenschwester war gegangen.
    Als sie wiederkam, um das Geschirr wegzuräumen, war das Papier immer noch leer.
    Omka sagte: »Ich weiß nur meinen Vornamen.«
    »Das nützt uns nichts – ich sage es dem Oberarzt.«
    »Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Omka.
    »Ach«, sagte die Krankenschwester, »erst mal gar nichts. Gehen Sie doch hinaus, ein bisschen spazieren – oder einen Kaffee trinken. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie bekommen ärztliche Hilfe, in unserem Gesundheitssystem wird im Zweifelsfall jeder behandelt.«
     
    Er wanderte durchs Krankenhaus und versuchte, einen Schritt nach dem anderen zu setzen, war immer noch dumpf, müde, und seine Füße fühlten sich an, als würde er dicke, schafwollene Socken tragen, aber er war barfuß. Alles kam ihm unwirklich vor. Wenn er versehentlich irgendwo anstieß, tat es ihm nicht weh. Er fühlte sich mächtig und verletzlich zugleich. Als würde er schweben.
    Das normale, alltägliche Leben war plötzlich weg. Er starrte auf den grauen Plastikfußboden und folgte irgendeiner unsichtbaren Linie, neben sich zog er die Infusionsflasche am Gestell nach. Der Arzt hatte gesagt, er solle sich bewegen und viel trinken, dann würden die Nebenwirkungen der Vollnarkose schneller vergehen. Deshalb wanderte er immer noch halb betäubt durchs Krankenhaus. Die Menschen rollten an ihm vorbei wie Seifenblasen, und er fühlte sich wie in einem warmen Traum.
    Als er an der Cafeteria vorbeikam, dachte er kurz daran, sich einen kleinen Schnaps zu kaufen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder, obwohl er ihm wie eine Befreiung vorkam, weil der Arzt es ihm verboten hatte. Durch die Scheiben der Cafeteria sah er eine Frau, die bei einer Tasse Kaffee in der Ecke saß und geradeaus sah, auf die Wand. Er blieb stehen und schaute sie an. Ihr langes Haar hatte die Farbe von schmutzigem Weizen, an ihrem Hals war ein Muttermal, das ihn irgendwie rührte, ihr Blick war neugierig, ihre Lippen halb geöffnet.
    »Wie neugeboren«, dachte er kurz.
    Sie merkte nicht, dass er sie ansah.
     
    Sie lag in ihrem Bett, und ihr fielen Bilder ein, aber sie wusste nicht, woher sie kamen und ob sie aus ihrer Vergangenheit waren oder nicht. Die Gegenwart machte einen kraftvollen, frischen Eindruck auf sie. Alles, was sie sah, interessierte sie, weil sie es nicht kannte. Sie freute sich über das Glas Tee, das auf ihrem Nachttisch stand, über die Wolke am Himmel, die aussah wie ein Flügel, über den hässlichen Plastikfußboden, der nach Desinfektionsmittel roch.
     
    Sie wusste nichts mehr, und das war wie ein dicker Dunstschleier, in dem sie hing, wie in einem Wolltuch eingepackt und ohne Namen,

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