On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
folgenden Kommunalwahlen die Mehrheit erreichte und den Bürgermeister wieder ins Amt setzte. Seitdem wartet er darauf, dass Helmut Schmidt stirbt und er die abgelegene Sackgasse »Am faulen Graben« nach ihm benennen kann.
Mist, schon wieder war ich abgedriftet. Wo war ich jetzt? Tiergarten. Siegessäule. Schloss Bellevue. Regierungsviertel. »1994 beschloss der Bundestag den Umzug der Regierung in die Bundeshauptstadt Berlin. Bonn behielt einige Ministerien und war fortan Bundesstadt.«
Oje, die armen Bonner! »Bundesstadt« klingt wie Trostpreis (»Für Sie das Spiel zur Sendung«), und wer einmal am Bonner Hauptbahnhof war, weiß, dass es dort auch genauso aussieht. Warum geben sich eigentlich so viele Städte selbst Titel, die weniger Auszeichnungen als Armutszeugnisse sind? Fachhochschulstadt Aschaffenburg. Barockstadt Fulda. Expo- und Messestadt Hannover. Bünde/Westfalen – die Zigarrenstadt. Hofheim – Obstgarten des Vordertaunus. Hartberg – Zentrum der nördlichen Oststeiermark. Goetheort Stützerbach. Hier soll der Dichterfürst sogar mal besoffen gewesen sein. Hannover und Fulda haben ein so starkes Bedürfnis nach Anerkennung, dass sie ihre Titel am Bahnhof durchsagen lassen. In Donauwörth hängen am Bahnhof unter dem Ortsnamensschild gleich zwei Titelschilder: »Stadt der Käthe-Kruse-Puppen« und »Hubschrauberstadt Europas«. Göttingen hat sogar ein beknacktes Wortspiel am Bahnhof hängen: »Stadt, die Wissen schafft«. Igitt!
Diese unverhohlene Anbiederei muss einem doch verdächtig vorkommen. Als ähnlich peinlich empfand ich immer die Provinzler, die sich bewusst sind, dass sie in einem unbedeutenden Kaff wohnen, und deshalb die Besonderheiten ihrer Heimat hervorheben wollen. Dinkelsbühl hat die zweitgrößte Hallenkirche Süddeutschlands. Riesa hat den zweitgrößten Binnenhafen Ostdeutschlands. Kremmen hat das größte zusammenhängende Scheunenviertel Deutschlands. Montabaur hat einen ICE -Bahnhof bekommen und ist damit »ein Stückchen näher an Europa gerückt«. Reinheim liegt sehr zentral im Odenwald, mitten im Dreieck Frankfurt-Darmstadt-Aschaffenburg. Von Neustadt an der Dosse kann man den Regionalexpress nehmen und steht »in siebzig Minuten vor dem Kanzleramt«.
Im Prinzip gehört auch Berlin zu dieser Art Städte. Auf jeden Hollywoodvogel, der auch nur zur Durchreise nach Berlin kommt, reagiert die Lokalpresse aufgeregt wie ein Teenie vor dem Schnapsladen. Angelina Jolie und Brad Pitt sind in Schönefeld zwischengelandet. Es wird gemunkelt, sie wollten in Berlin sogar essen gehen. George Clooney war zwei Tage hier und hat drei Sätze in eine Kamera gesprochen. Er sei gern in Berlin, hat er gesagt. Wahnsinn! Arnold Schwarzenegger hat seinen Besuch abgesagt, weil in Kalifornien Waldbrände ausgebrochen sind, schadeschade. Wenn Robbie Williams ein Konzert in Berlin gibt, steht das eine Woche lang jeden Tag in der Zeitung, und sogar ich freue mich aufs Konzert, weil dann die dämliche Vorberichterstattung endlich aufhört. Am Tag nach dem Konzert kommt ein langer Artikel mit großem Foto im Tagesspiegel. Protagonisten sind immer zwei Mädchen: »Minka und Tini haben seit Stunden im Regen ausgeharrt, um ihr Idol zu sehen. ›Die Warterei hat sich aber total gelohnt‹, sagt die 19-jährige Zahnarzthelferinauszubildende Minka. ›Er hat super Lieder gesungen. Mein Lieblingslied war auch dabei.‹« Ja bitte, wo sind wir denn? Bei der Theateraufführung einer niedersächsischen Gesamtschule? Sogar eine Imagekampagne hat Berlin gestartet, wie eine westfälische Kleinstadt. Hat man Ähnliches von New York, Tokio oder London gehört?
Wenn ich es mir so überlegte, fand ich die meisten deutschen Städte ziemlich beknackt. Die Landeshauptstädte kann man eigentlich alle vergessen. Beweis: Hannover. Berlin ist eine Agglomeration mentaler Bauerndörfer mit implantierten Künstlervögeln. Köln besteht aus einer einzigen Kriegslücke plus Dom, begrenzt durch eine vulgäre Ausgehmeile, umgeben von eingemeindeten Dörfern. München ist eine Stadt voller pelzmanteltragender Prokuristengattinnen, die sich beim Konditor mit »Frau Direktor« ansprechen lassen, und wo Kultur entweder hochsubventioniert oder verboten wird. Außer Konkurrenz laufen die schönen großen Kleinstädte, die sich zwar sehr gut zum Studieren eignen, wo aber außer Tocotronic-Konzert, Poetry Slam und ähnlichen Studentenspäßen nicht viel passiert: Freiburg, Regensburg, Marburg, Tübingen, Heidelberg, Passau, Münster,
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