Onkel Toms Hütte
Schublade.
Langsam zog Mrs. Bird sie auf. Da lagen Mäntelchen von verschiedener Form und Machart, Stöße von Schürzen und Reihen kleiner Strümpfe, auch ein Paar Schühchen, abgestoßen an den Spitzen, lugten aus einem Papier hervor. Daneben lagen ein Spielzeugpferdchen, ein Kreisel, ein Wägelchen und ein Ball – Andenken, die sie mit vielen Tränen zusammengetragen hatte. Sie ließ sich davor nieder, stützte ihren Kopf auf die Hände und weinte, bis ihr die Tränen durch die Finger in die Schublade fielen. Dann richtete sie sich rasch auf und begann in Eile die praktischsten und einfachsten Sachen auszusuchen und in einem Bündel zusammenzuschnüren.
Danach öffnete Mrs. Bird einen Schrank, dem sie ein – zwei praktische Kleider entnahm, und setzte sich sogleich an ihren Nähtisch, um mit Nadel, Schere und Fingerhut ›das Auslassen‹ zu besorgen, das ihr Mann empfohlen hatte. Sie hörte erst auf, als die Uhr in der Ecke zwölf schlug und ein leises Wagenrollen vor der Haustür wahrnehmbar wurde.
»Mary«, sagte ihr Mann, mit seinem Mantel über den Arm hereintretend, »du mußt sie jetzt aufwecken. Wir müssen aufbrechen.«
Mrs. Bird barg alle zusammengesuchten Sachen in einem einfachen kleinen Koffer, schloß ihn ab und bat ihren Mann, ihn mit in den Wagen zu nehmen. Danach weckte sie die Frau. Es dauerte nicht lange, da erschien Eliza im Türrahmen, mit dem Kind auf dem Arm, angetan mit einem Umhang, Haube und Schal ihrer Wohltäterin. Mr. Bird schob sie eilig in den Wagen, während Mrs. Bird an die Wagentür trat. Eliza lehnte sich zum Fenster heraus und streckte ihre Hand aus – eine Hand, genauso zart und schön wie die, die ihrer begegnete. Sie heftete ihre großen dunklen Augen bedeutungsvoll auf Mrs. Bird und schien zum Sprechen anzusetzen. Ihre Lippen formten Worte, sie versuchte es ein paarmal, aber es drang kein Laut hervor. Da deutete sie stumm mit einem unvergeßlichen Blick nach oben, sank auf ihren Sitz zurück und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Die Tür wurde geschlossen, und der Wagen fuhr davon. In welcher Lage befand sich unser patriotischer Senator, der die ganze Woche hindurch die Gesetzgebung seines Landes angespornt hatte, strengere Maßnahmen gegen flüchtige Sklaven und ihre Helfershelfer zu erlassen!
Unser guter Senator wäre in seinem Heimatstaate von keinem seiner Brüder in Washington an Beredsamkeit überboten worden, die sich in diesen Entscheidungen einen traurigen Ruhm erwarben. Mit welcher Überlegenheit hatte er mit den Händen in den Hosentaschen die sentimentalen Schilderungen und Beweise seiner Gegner verlacht, denen das Wohlergehen einer Handvoll armseliger Flüchtlinge wichtiger war als die hohen Staatsinteressen!
Kühn wie ein Löwe hatte er sich aufgeführt und nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen überzeugt, freilich hatte er nie eine lebendige Vorstellung gehabt. Dem Elend wirklich gegenüberzustehen, das flehende Menschenauge, die zitternde Hand, die verzweifelte Bitte in hilfloser Todesnacht hatte er noch nie erfahren. Er hatte nie gedacht, daß ein Flüchtling auch eine verzweifelte Mutter, ein unschuldiges Kind sein kann wie jenes, das jetzt seines Lieblings wohlbekannte kleine Mütze trug. Daher befand sich unser armer Senator – denn er war kein Mann von Stein, sondern ein Mensch und ein edler und warmherziger dazu – jetzt mit seinem Patriotismus in einem argen Zwiespalt.
Mochte er auch politisch gesündigt haben, in dieser Nacht tat er Buße. Es hatte lange Zeit geregnet, und der fruchtbare weiche Boden von Ohio eignet sich bekanntlich prächtig zu einem zähen Morast. Auch war der Weg ein rechter Ohioweg aus der guten alten Zeit.
»Bitte schön, wie ist ein solcher Weg beschaffen?« mag der östliche Leser fragen, dessen Vorstellung von einem Weg sich einzig mit Ebenheit und Geschwindigkeit verbindet.
»So wisse denn, ahnungsloser Freund aus östlichen Gefilden, daß man in den gesegneten Landstrichen des Westens, wo der Morast unvorstellbar tief und zähe ist, die Straßen aus runden, unbehauenen Baumstämmen herstellt, die man quer nebeneinanderlegt und in ihrer jungfräulichen Frische mit Erde, Rasen oder was sonst zur Hand ist bedeckt. Das nennt der Eingeborene dann frohlockend eine Straße und zögert nicht, sie sofort mit Pferd und Wagen zu benutzen.
Im Laufe der Zeit aber spült der Regen Gras und Erde wieder ab, die Stämme lösen sich, verschieben sich und lagern sich willkürlich über- und aufeinander – ein
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