Onkel Wanja kommt
meiner spätsozialistischen Heimat nahmen es die Tresenkräfte mit der Volljährigkeit nicht besonders genau. Offiziell durften wir ab dem achtzehnten Lebensjahr Bier trinken, aber mit einem Lächeln und guten Beziehungen zum Tresen konnte man schon früher damit anfangen. Mein Freund Oleg und ich versteckten uns oft in der künstlichen planetarischen Nacht, wenn wir von dem hellen Alltag die Nase voll hatten. Dabei fühlten wir uns wie zwei Bierkosmonauten im All. Bald kannten wir uns im Programm »Der rasende Weltraum: Sterne – ihre Geburt, ihr Leben und Sterben« besser aus als in der Realität. Der Sternenhimmel des Planetariums wurde unser eigentliches Zuhause, der einzige Ort, an dem wir uns frei fühlten, unabhängig und unsichtbar. Wir konnten uns im Sternbild des Bauern und des Arbeiters gleich gut verstecken, weder Eltern noch Polizei konnten uns dort finden.
Es gab noch andere Vorteile unter diesem Himmel, dort in unserem Lieblingsplanetarium: Im Programm über den rasenden Weltraum wurde Pink Floyd gespielt: »Shine on You Crazy Diamond«. Das war die geilste Vorstellung, die man unter dem Himmel der Sowjetunion überhaupt haben konnte. Doch auch dieses Fest war nicht von Dauer. Anfang der Achtziger beschlossen Pink Floyd auf einmal politisch zu werden. Sie sangen »Brezhnev took Afghanistan, Reagan took Beirut« und wurden prompt in der Sowjetunion verboten, ja sogar aus dem Planetarium verbannt. Ab sofort wurde der rasende Weltraum nur noch mit der optimistischen kosmischen Musik der russischen Popband Zodiak und ganz ohne Text begleitet.
Mich hat es nicht so verletzt, mir war es als eigentlichem Deep-Purple-Fan zutiefst violett. Meinen Freund Oleg hat diese Erfahrung jedoch zu einem anderen Menschen gemacht. Er hörte auf, ins Planetarium zu gehen, und widmete sein Leben dem Sammeln von Gilmour und Waters Platten. Er stritt mit seiner Mutter, wollte nach der Schule nicht mehr am Elektrotechnischen Institut studieren, jobbte in einer Bäckerei, entwickelte starke Neigungen zu esoterischer Literatur, interessierte sich für Zen-Buddhismus, wurde vom Staat sofort in die Armee gesteckt, landete mit der letzten Unglücksstaffel in Afghanistan und kehrte nicht nach Hause zurück. Ach, mein lieber Onkel, wenn ich heute zurückblicke, wird mir allmählich klar, Pink Floyd ist an allem schuld.
Zu Hause schob ich den Koffer des Onkels ins Gästezimmer und kochte für uns erst einmal einen Tee. Mein Onkel, obwohl hundemüde, wollte nicht schlafen. Stattdessen schaute er sich die Fotos der Verwandtschaft an, die bei mir in der Küche und im Zimmer an den Wänden hängen und auf den Bücherregalen ausgestellt sind. Er erkannte seinen längst verstorbenen Bruder, meinen Großvater, seine Frau oder meine Oma sofort und wunderte sich, wie viele dieser alten Fotos ich habe. Ich wollte angeben und zeigte ihm noch andere Familienreliquien aus meinem Besitz. Meine Wohnung ist voll von Erinnerungsstücken an die verstorbene Verwandtschaft. Dazu gehören neben ihren Kriegsmedaillen und Auszeichnungen für ihren Einsatz beim Aufbau des Sozialismus der Stock meines Großvaters, den er sich laut Familienlegende selbst geschnitzt hat, und sein zersprungenes Teeglas. In seinen späten Jahren konnte er stundenlang mit diesem Teeglas in Omas Küche sitzen und Witze erzählen, bei denen nie ganz klar war, wo der Lacher steckte. Sie waren lang, mein Opa verlor stets die Pointe aus den Augen und schweifte weiträumig vom Thema ab.
»In drei Tagen kommt die Flut, in drei Tagen! Also, sagt der Pope, lasst uns noch schnell den ganzen Wodka austrinken, den wir vorrätig haben …«, so erzählte der Großvater.
Die kaputte Kuckucksuhr meiner Großmutter habe ich auch geerbt. Als Kind durfte ich sie nicht einmal anfassen. Man musste an einer langen Kette hängende Gewichte hochziehen, um diese Uhr zum Ticken zu bringen, und wenn man zu doll an der Kette zog, kam der Kuckuck persönlich aus dem Türchen, allerdings zur falschen Zeit und mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck. Ich liebte diese Uhr über alles. Ich konnte stundenlang vor ihr sitzen in der Erwartung, dass die Gewichte tief genug hingen und ich an der Kuckuckskette ziehen durfte. Meine Großmutter mochte es jedoch nicht, wenn der Kuckuck zur falschen Zeit laut wurde. Sie dachte vielleicht, ihr würde auf diese Art Lebenszeit gestohlen, und verbat sich das Ziehen an der Kette. Die Zeit ist aber auch ohne Vogel schnell verstrichen, meine Oma ist längst tot, und die Uhr
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