Onkel Wanja kommt
Mitte der Jungsreihe sehen.«
Auf einem anderen Foto dient der Onkel in der Armee. Es ist Winter, seine Einheit soll zum Fahneneid antreten, die Soldaten marschieren über den Platz. Man sieht viel Schnee, finster blickende Offiziere, verängstigte Soldaten, die sich anstrengen und die Beine unnatürlich hoch heben, als wären sie beim Ballett. Der Onkel ist nirgends zu sehen.
»Wir standen in einer Dreierreihe und der Fotograf auf der rechten Seite. Rechts vor mir aber schwang der Tatar sein Bein so hoch, das es mich völlig verdeckte. Ich war damals noch dünn und verschwand völlig hinter seinem Bein.«
Auf dem dritten Foto heiratet mein Onkel. Man sieht seine zukünftige Ehefrau in einem pompösen Brautkleid, wie sie ihre Unterschrift ins Buch der Eheschließungen setzt, neben ihr stehen die Zeugen mit großen Blumensträußen. Mein Onkel ist wie gewöhnlich unsichtbar, hinter dem Brautkleid und den Blumen versteckt. Später besuchte der erste Präsident der russischen Föderation, Boris Jelzin, seinen Betrieb, als er noch in Odessa in der Ukraine gearbeitet hat. Zu diesem besonderen Anlass wurde das ganze Kollektiv versammelt. Alle wollten sich mit dem Präsidenten zusammen fotografieren lassen. Auch mein Onkel. Dieses Foto ist das größte und das einzige Farbfoto in seiner Sammlung. In der Mitte steht der Präsident. Neben ihm der Betriebsdirektor, dessen Stellvertreter und der Hauptingenieur, sie haben den Onkel immer weiter vom Präsidenten weggedrängt. Am Rand des Bildes ist gerade noch eine Schulter zu sehen.
»Das ist zum Beispiel meine Schulter«, sagte mein Onkel. »Der Präsident hat mir sogar auf diese Schulter geklopft. Genau die hier. Ich bin mir absolut sicher, dass es meine ist. Ich werde doch meine Schulter von tausend anderen Schultern unterscheiden können«, versicherte mir mein Onkel, als ich vorsichtig meinen Unglauben äußerte.
Es gibt noch andere tolle Bilder in seiner Sammlung. Auf einem Foto ist er mit Freunden beim Angeln. Seine Freunde halten den Fang hoch, mein Onkel verschwindet völlig hinter dem sehr großen Fisch. Auf einem anderen ist er bei der Besteigung eines Berges in den Karpaten hinter seinem Riesenrucksack versteckt.
Die meisten Menschen auf den Fotos sind bereits tot, vor allem diejenigen, die sich gerne in den Vordergrund drängten, meinte mein Onkel. Sie waren als Erste dran gewesen. Nicht umsonst, sagen die Chinesen, wird nur der Vogel, der vorne fliegt, abgeschossen. Nach der Theorie meines Onkels schaut auch der Tod sich gerne alte Fotos an und holt diejenigen ab, die ihm am besten gefallen. Mein Onkel wird also möglicherweise ewig leben, solange er auf seinen Fotos unsichtbar bleibt. Ich bin auf jeden Fall immer davon ausgegangen, dass er unsterblich ist.
Wir hatten uns lange nicht gesehen, als er sich plötzlich bei mir meldete. » Meine Tage sind gezählt «, schrieb mir mein Onkel in einem zweiseitigen Brief in der perfekten Schrift eines Sechstklässlers. » Ich habe Schmerzen. Ich habe Rücken- und Nasenschmerzen, Bein- und Kopfschmerzen, ich habe nichts außer Schmerzen und eine Erinnerung daran, wie schön wir mit Dir damals 1981 auf dem Balkon in Odessa saßen und aufs Meer schauten. Ich möchte Dich gerne besuchen und von deinem Balkon schauen, egal wohin. «
Wir hatten uns damals in Odessa zufällig getroffen, mein Onkel galt in der Familie als schwarzes Schaf und wurde vor mir und den anderen Verwandten verschwiegen, versteckt. Sie hatten Angst, der Lebenswandel meines Onkels, der durch das Land hin und her pendelte, mal nach Osten und mal nach Westen, der ohne eine vernünftige Arbeit und nie auf Dauer mit ein und derselben Person verheiratet war, könnte meine junge Seele negativ beeinflussen. Einmal, ich besuchte meine Oma in Odessa, klopfte mein Onkel dort unangekündigt an und lud mich in seine damals noch neue Wohnung ein. Mich, einen vierzehnjährigen Jungen, freute seine Einladung sehr. Wir verbrachten einen ganzen Tag zusammen, und ich habe bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal guten alten Portwein probiert.
Mein Onkel erzählte mir unter anderem von seiner Reisetheorie: Er teilte alle Länder der Welt in zwei Kategorien ein – die der tomatenförmigen und die der gurkenförmigen. In den tomatenförmigen, meinte er, habe es nur Sinn, im Kreis zu reisen, von Norden nach Süden und zurück. In den gurkenförmigen müsse man dagegen parallel zum Äquator von West nach Ost reisen und die großen Städte dort meiden. Unsere Sowjetunion
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