Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
zählte.
Nichtsdestoweniger vermuteten jene zwei Gäste des Cafés Lorbaß eine Aktion in diesem Rahmen, als sie den Enduro-Sprung von ihrem Loungesessel aus verfolgten. Aufmerksam geworden waren sie ja schon durch den Motorenlärm, und als die Maschine samt Fahrer flach vom Steg schoß, sagte der eine »Äy« und der andere gar nichts. Es fiel ihm nichts ein, »gar nichts, aber auch gar nichts« fiel ihm dazu ein – außer daß er, wenn das ein Gag zum Moderlieschen-Fest sein sollte, auf die Pointe sehr gespannt wäre.
Der andere behauptete das eine Mal, er habe durchaus wahrgenommen, daß der irre Hüne splitternackt und ganzkörpertätowiert gewesen sei. Das andere Mal aber vielmehr, er habe an einen ›Catsuit‹ geglaubt, an ein buntes Ganzkörperkondom einschließlich Kapuze (wegen des diffusen Eindrucks fehlender Ohren). »So in der Art von Spider Man«, lautet seine Beschreibung im Protokoll der späteren Vernehmung.
Auch die übrigen Leute, einschließlich der Servicekräfte, lungerten nur und lauschten und gafften, wie sich der irre Hüne von der meckernd durchdrehenden Maschine löste und, sodann zu einer gewaltigen, bunten Arschbombe geballt, samt Enduro einschlug und eine stattliche, zweistrahlige Fontäne hinterließ. Das Motorrad blieb weg. Das Mensch tauchte wieder auf – das kurze Schwert oder den Dolch, oder was genau es war, nun in der Rechten haltend –, schwenkte nach einer Sekunde Orientierung ins Kielwasser der Saselbek ein und begann, wie mit Dreschflegeln betrieben hinter ihr herzurauschen.
Dagmar war ihrem Unstil in puncto Kameraführung treu geblieben. Nach der Explosion der Schwarzen Engel hatte sie einfach gar nichts getan, als weiter draufzuhalten, so daß der Enduro-Jockey auf den Betrachter zuspringt und, in Unschärfe aufgelöst, über dessen rechten Schulter im Nichts verschwindet. Während in der Totalen das Sprudeln der Schwarzen Engel als Kommentar verbleibt, bis das doppelte Platschen aus dem Off die akustische Fortsetzung liefert.
Anschließend (Phase drei: ›Impressionen einer betrunkenen Libelle‹) schien Dagmars Auge unverrückbar fixiert auf den Sucher, so durcheinander war sie. Tief innen ahnte sie bereits, daß dieser Tag spektakulär verschieden von dem verlaufen würde, den sie und Ellen sich eben noch, beim Frühstück im Atlantic, ausgemalt hatten. Während bei den anderen Fahrgästen auf dem Achterdeck noch babylonisches Urstaunen vorherrschte, hatte Dagmar bereits Angst (allerdings nicht nur Angst). Jedenfalls war sie verwirrt genug, geschlagene acht Sekunden lang zu vergessen, daß der Sucher des Camcorders kein Körperteil war. Auch keine Brille oder so. Und weil das Objekt aus ihrem Objektiv verschwunden war, irrte sie acht Sekunden lang mit dem Sucher Reißschwenk für Reißschwenk im Ungefähren herum. Wobei sie auch noch den Schaukelknopf des Zooms für nervöse Entladungen mißbrauchte. Das Ergebnis ähnelt dem, was ein Nutzerkommentar als »impressions of a drunken dragonfly« qualifiziert.
In nächster Mikrofonnähe zu hören ist in dieser Phase eine Übersprunghandlung Ellens: eine Art südhessischer Gospel. Jubelgelall. Nicht einmal ein gebürtiger Hanauer Phonetiker hätte eine Bedeutung herausfiltern können. Es gelang Ellen später selbst nicht mehr.
Schließlich drang Dagmar ans Bewußtsein, daß sie ohne Digicam vorm Gesicht viel besser sehen könnte, was hier vor sich ging. Sie blieb zwar auf der Bank sitzen, wie Ellen in der Hüfte gedreht, um sich mit dem linken Arm aufs Geländer der Heckveranda lehnen zu können. Hob die Kamera jedoch anscheinend mit rechts über Ellens Kopf hinweg – für den Betrachter jedenfalls ein schwindelerregendes Manöver –, und bettete das Gerät in ihren Schoß. Und filmte die nächsten siebenundzwanzig Sekunden ein Stilleben: den Saum ihrer Khaki-Shorts, die Holzdielen des Dampfers, die lackierten Nägel ihrer Zehen (Aubergine metallic), welche aus goldenen Dreihundertsiebzig-Euro-Sandaletten krallten, Beute vom Vortag aus der Edelshoppingmeile Große Bleichen.
Das Hörspiel zu dieser siebenundzwanzigsekündigen Stillleben-Phase‹ besteht aus den tosenden Kraulhieben des Berserkers sowie, zunächst noch, dem sonoren Diesel der Saselbek samt letztem Shantyrefrain. Einem Porsche-Röhren, vom Alsterufer her. Den tosenden Kraulhieben. Wiederum Ellens Stimme, nun leiser, doch deutlicher: » Leck misch, was –« (Ohne Untertitel.) Der Stimme der Sitznachbarin zur Rechten Ellens, einer
Weitere Kostenlose Bücher