Die Jagd - Laymon, R: Jagd - The Endless Night
1
Jody wurde aus dem Schlaf gerissen.
»Wach auf«, ertönte ein dringliches Flüstern. »Wach auf, Jody! Bitte!«
Die Stimme gehörte Evelyn – wie höchstwahrscheinlich auch die Hand, die an Jodys Schulter rüttelte.
Ach ja, fiel ihr ein, ich bin über Nacht bei Evelyn. Und versuche zu schlafen. Erfolglos, wie es aussieht.
Sie öffnete die Augen, rieb sich über das Gesicht und gähnte. Das Zimmer war dunkel, aber sie konnte trotzdem Evelyn erkennen, die vom Bett auf sie heruntersah. Das Gesicht des Mädchens war nicht mehr als ein fahler, von Schatten verwischter Schemen. Der Arm, den sie nach Jodys Schlafsack ausgestreckt hatte, war etwas dunkler als die weißen Bettlaken. Ihre Hand hielt Jodys Schulter fest umklammert.
Jody stöhnte auf. »Was ist denn jetzt wieder?«
»Ich hab was gehört.«
»Jetzt mach mal einen Punkt«, murmelte sie. »Ich hab gerade so schön geträumt. Und das würde ich jetzt gern wieder tun, wenn es dir nichts ausmacht. Mann.« Sie gähnte, und Evelyn schüttelte wieder ihre Schulter.
»Das ist mein Ernst. Ich mach keine Witze. Ich habe wirklich etwas gehört.«
»Und?«
»Ich hab Angst.«
Das wäre ja nichts Neues, dachte Jody, hielt aber den Mund. Evelyn hatte die Angewohnheit, sich ständig und über alles aufzuregen – trotzdem war sie seit Kindergartenzeiten Jodys beste Freundin. Jody hatte also über zehn Jahre Erfahrung im Umgang mit ihrer übertriebenen Vorsicht.
»Da ist bestimmt nichts. Schlaf weiter.«
»Jemand hat unten ein Fenster eingeschlagen.«
»Aha.« Jody gähnte noch einmal. Jetzt war sie endgültig wach. Im Schlafsack war es viel zu heiß. Hatte Evelyns Vater vor dem Zubettgehen die Klimaanlage ausgeschaltet? »Ein Klirren?«, fragte sie. »Vielleicht ist deine Mutter oder dein Vater aufgestanden und hat was fallen lassen. Wie spät ist es eigentlich?«
»Viertel nach eins.«
»Himmel.« Sie tastete nach dem Reißverschluss des Schlafsacks und fand ihn neben ihrer linken Schulter. Die Hand auf ihrer Schulter zuckte, als Jody den Reißverschluss öffnete. »Das bin nur ich«, sagte sie.
»Was machst du denn da?«
»Ich sterbe vor Hitze.«
»Wir müssen doch irgendwas unternehmen.«
»Stimmt. Nämlich weiterschlafen.« Sie schlug den unangenehm dicken Schlafsack zurück, bis er nur noch ihre Knie bedeckte. Dann strampelte sie sich frei und streckte sich. Das war viel besser. Nur ihr Nachthemd umhüllte sie noch und hielt die angenehm kühle Luft ab. Zu Hause hätte sie es einfach ausziehen können. Hier ging das nicht. »Schaltet dein Dad eigentlich nachts die Klimaanlage aus?«
»Oh Mann, Jody.«
»Können wir nicht das Fenster aufmachen oder so?«
»Die kann man nicht aufmachen.«
Das hat man nun von diesen hochmodernen Häusern, dachte sie. »Deshalb haben sie es wahrscheinlich eingeschlagen. «
»Ich finde das überhaupt nicht witzig.«
Jody spürte, wie das Nachthemd ihren Körper hinaufglitt, als sie die Arme hob und hinter dem Kopf verschränkte. Jetzt konnte sie die kühle Luft auf ihren Schenkeln spüren. Sie ließ ein Bein zur Seite fallen.
Viel besser.
Ich muss nur vor morgen früh wieder in den Schlafsack schlüpfen. Evelyns Vater und ihr Bruder dürfen mich auf keinen Fall so sehen. Mann, das wäre peinlich. Ich könnte ja Mr Clark – Charles – nie wieder in die Augen sehen. Und bei Andy wäre es noch schlimmer. Sehr viel schlimmer. Er ist sowieso schon bis über beide Ohren in mich verschossen. Der kleine Rotzlöffel würde bestimmt einen Herzinfarkt bekommen – der erste Zwölfjährige in der Menschheitsgeschichte, der vor Aufregung einen Herzanfall bekommt.
»Sollten wir nicht mal nachsehen?«, fragte Evelyn.
»Du hast nur ein leises Klirren gehört? Glas?«
»Ja.«
»Das kann doch alles Mögliche gewesen sein. Vielleicht kam es von draußen. Jemand hat eine Flasche fallen lassen.«
»Und wenn es ein Einbrecher ist?«
»Wenn es ein Einbrecher ist, dann wäre er bestimmt nicht besonders begeistert, wenn wir ihn bei der Arbeit stören.«
»Haha.«
»Außerdem wäre dann doch die Alarmanlage losgegangen. «
»Und wenn nicht?«
»Dein Dad schaltet sie doch immer ein, bevor er ins Bett geht.«
»Keine Ahnung.«
»Mein Gott, Ev. Jedes Mal, wenn deine Eltern vor uns ins Bett gehen, warnt mich dein Dad, ja nicht die Haustür anzufassen. Oder traut er mir nicht? Vielleicht glaubt er, ich übe einen schlechten Einfluss auf dich aus und will dich dazu überreden, aus dem Haus zu schleichen und wilde Partys zu
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