Operation Romanow
1. KAPITEL
Ich glaube, die größten Geheimnisse sind vergraben, und nur die Toten sprechen die Wahrheit.
Und in gewisser Weise kam ich aus diesem Grunde an jenem Sommermorgen, als wir die Leichen fanden, in die Wälder. Es regnete in der Stadt der Toten Seelen, und ein kräftiger Schauer überschwemmte die Straßen.
»Heute Morgen ist nicht viel Verkehr. Dreißig Minuten, länger nicht«, sagte mein russischer Fahrer, als unser Landrover an imposanten Granitgebäuden vorbeifuhr, den Relikten einer längst vergangenen prächtigen Epoche.
Ich lehnte mich zurück und sah das alte kaiserliche Jekaterinburg an mir vorüberziehen. Die Stadt, die 1723 zu Ehren von Kaiserin Katharina der Ersten ihren Namen erhalten hat, liegt im Schatten des Urals. Die Landschaft erinnert an die zerklüftete Schönheit Alaskas – dichte Wälder mit Wölfen und Bären, tiefe Schluchten und schneebedeckte Gipfel. Ergiebige Erzminen, welche die größten Schätze der Welt – Platin und Smaragde, Gold und Diamanten – bergen, durchziehen die felsigen Bergketten, die hinter der sibirischen Metropole aufragen.
Als wir Jekaterinburg hinter uns ließen und an den mit Birkenwäldern bewachsenen Hängen vorbeifuhren, öffnete ich die Lederaktentasche auf meinem Schoß und nahm eine Akte heraus. Auf dem blauen Aktendeckel stand:
VORLÄUFIGER BERICHT ÜBER DIE ERGEBNISSE DER ARCHÄOLOGISCHEN GRABUNGEN IN JEKATERINBURG
Dr. Laura Pawlow, Forensische Pathologin, verantwortliche Archäologin der Grabungen
Ich blätterte den dicken Papierstapel durch und sah mir noch einmal die Ergebnisse meiner Arbeit der letzten drei Monate an. Dies war meine erste Reise nach Jekaterinburg, und unser Team kam von überall her: forensische Archäologen, Wissenschaftler und Studenten aus Amerika, England, Deutschland, Italien und natürlich aus unserem Gastland Russland. Für unser gemeinsames Abenteuer erhielten wir nur eine kurze Einweisung: Wir sollten in den Wäldern nach Beweisen für Massenhinrichtungen während des Roten Terrors zur Zeit der russischen Revolution graben.
Viele Tausende kamen um, nicht zuletzt auch die Romanows, die russische Zarenfamilie – der Zar, die Zarin, ihre vier hübschen Töchter und ihr jüngstes Kind, der dreizehnjährige Alexej – von Kugeln und Bajonetten durchbohrt, ihre Schädel von Gewehrkolben zertrümmert und ihre Leichen mit Schwefelsäure übergossen.
Das Ipatjew-Haus, in welchem die Familie gefangen gehalten worden war, wurde von den Stadtbewohnern das Haus der Toten Seelen genannt. Aber die Roten richteten während ihrer Herrschaft so viele Menschen hin, deren Leichen sie in Minenschächte warfen und in anonymen Gräbern in den weiten Wäldern außerhalb von Jekaterinburg vergruben, dass die Bewohner ihrer Stadt einen neuen Namen gaben: Stadt der Toten Seelen .
Mit der Hitze und den vielen Mücken hatte ich nicht gerechnet. Im Winter gleicht Sibirien einem Gefrierschrank, doch in den kurzen, heißen Sommern herrschen oft hohe Temperaturen. In den Wäldern wimmelt es dann von Fliegen und Mücken. Die Hitze ist so stark, dass süßlich duftendes Harz von den Bäumen tropft und dessen wohlriechender Geruch die Luft erfüllt.
Als mein Fahrer auf einen schmalen, schlammigen Pfad einbog, auf dem schwere Lastwagen Spurrillen hinterlassen hatten, hörte es auf zu regnen. Unser Landrover steuerte auf eine Ansammlung von Baracken und stabilen, begehbaren Zelten zu, die für die Dauer unserer Grabungen in der Mitte einer Lichtung in einem Birkenwald aufgebaut worden waren. Auf einem von Hand beschriebenen Holzschild stand auf Englisch und Russisch:
GRABUNGSSTÄTTE – PRIVATGRUNDSTÜCK
UNBEFUGTES BETRETEN VERBOTEN!
Es gab noch etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, als wir an diesem Sommermorgen neben einem der Zelte anhielten. Ich war in diesen nach Harz duftenden Wald gekommen, um die Geister der Vergangenheit auszugraben. Doch absolut nichts hätte mich auf das ungeheure Geheimnis vorbereiten können, über das ich stolperte, als die gefrorene sibirische Erde ihre Toten preisgab.
Denn mit den Toten kam die Wahrheit ans Licht.
Und mit der Wahrheit kamen die ersten Gerüchte der unglaublichsten Geschichte auf, die ich jemals gehört hatte.
Ich stieg aus dem Wagen, schob die Plane zur Seite und betrat mein Zelt. Als ich an meinem Arbeitstisch Platz nahm, kam Roy Moran herein, der die Ausgrabungen vor Ort beaufsichtigte. »Hallo, Baby.«
Wir nannten ihn Memphis Roy, und er nannte mich immer Baby . In Memphis nannte
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