Operation Romanow
jeder jeden Baby . Die Tatsache, dass einer Frau die Leitung der Grabungen oblag, änderte nichts daran. Wenn ich ein Mann gewesen wäre, hätte Roy mich auch Baby genannt.
Roy ist ein großer und knochiger, nüchterner Typ und einer der Besten auf seinem Gebiet. Ich öffnete meine Aktentasche, um Unterlagen herauszunehmen, und sagte: »Wolltest du nicht heute Morgen im Schacht 7 graben?«
»Klar, Baby.« Roy, der ein wenig außer Atem war, stemmte die Hände in die Hüften. In seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Verwirrung. Er nahm das schmutzige Basecap der Detroit Tigers ab, das er immer trug, wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste. »Sieht so aus, als könnte die Sieben unsere Glückszahl sein.«
»Spuck’s aus!«
»Wir haben so tief gegraben, wie wir konnten, und sind auf eine torfige Schicht Dauerfrostboden gestoßen. Aber wir haben etwas gefunden, Laura. Ich meine, wir haben wirklich etwas gefunden.«
Ich warf den Stift auf den Tisch. Roy gehörte nicht zu den Leuten, die sich leicht beeindrucken ließen. Doch in diesem Augenblick schien er unter Spannung zu stehen und vor Begeisterung überzusprudeln wie ein aufgeregter zwölfjähriger Junge. »Nun sag schon!«, forderte ich ihn auf.
»Das musst du dir selbst ansehen, Baby.«
Ich folgte Roy durch den Wald. Er bahnte sich mit seinen muskulösen Beinen langsam einen Weg durch regennassen Farn und an alten umgestürzten Bäumen vorbei. »Der Schacht ist über zwanzig Meter tief«, erklärte er mir unterwegs.
Überall auf der Lichtung lagen Bergbaugeräte, Stützpfeiler und Material zum Ausbau der Schächte. Dazwischen standen zahlreiche Lastwagen und SUVs. »Warum habe ich das Gefühl, dass du mir gleich etwas Interessantes erzählst? Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du gefunden hast.«
Roy ging grinsend weiter. Seine Erregung wirkte ansteckend auf mich. Auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen, und seine Augen strahlten. »Es ist eine Frau, Baby. Wir glauben, dass da unten eine weitere Leiche liegen könnte, aber sie ist zu tief vergraben, um zu sehen, was es ist. Und wer weiß? Vielleicht sind es sogar noch mehr!«
Als wir zwischen silbrig schimmernden Birken hindurchgingen und vor der Öffnung eines Minenschachtes stehen blieben, wurde ich nervös. Ich roch den intensiven erdigen Geruch des braunen Torfs. Das Loch im Boden war einen knappen Quadratmeter groß, und dicke Holzbalken sicherten die Seitenwände. Diese Grube gehörte zu einer Reihe von Schächten, die wir bei unseren Ausgrabungen erforschten. Wir suchten nach Hinweisen auf weitere Fundstücke aus der Romanow-Zeit, als der größte Teil dieses Gebietes eine Hinrichtungsstätte gewesen war.
In der Nacht des 16./17. Juli 1918 verschwand in Jekaterinburg die Romanow-Familie – die damals reichste Adelsfamilie der Welt. Augenzeugenberichten zufolge soll die ganze Familie umgebracht worden sein.
Doch aus irgendwelchen unbekannten Gründen beschlossen die Bolschewisten, ihren Tod nicht zu bestätigen, und über lange Zeit hielten sich hartnäckige Gerüchte, dass einige – wenn nicht gar alle Familienmitglieder – der Hinrichtung hatten entkommen können. Es gab auch Hinweise auf geheime Pläne, die Familie aus Jekaterinburg, von dem geheimen Ort, wo sie gefangen gehalten worden war, zu retten. Jahrelang erschienen immer wieder Berichte, dass eine oder mehrere Töchter des Zaren und ihr Bruder Alexej dem Tod entkommen seien.
Die Romanows hatten Edelsteine, Diamanten, Smaragde und Rubine in ihre Unterkleidung eingenäht, weil sie hofften, dass ihnen diese Wertgegenstände bei der Flucht behilflich wären. Später hieß es, die Edelsteine hätten die Qualen während ihrer Hinrichtung verlängert und den Tod hinausgezögert.
Solchen Geschichten hatte ich in meiner Kindheit gebannt gelauscht. Ob sie der Wahrheit entsprachen, spielte keine Rolle. Jedenfalls faszinierte mich, wie so viele andere auch, dieses Geheimnis, und ich wollte glauben, dass Anastasia und Alexej entkommen waren.
Zahllose Gerüchte rankten sich um ihre Ermordung, und Jahrzehnte später wurden bei verschiedenen Grabungen außerhalb von Jekaterinburg die sterblichen Überreste von sechs Erwachsenen gefunden. Unter ihnen sollten sich angeblich der Zar, seine Gattin und zwei seiner Töchter befinden. DNA-Vergleiche mit der blutsverwandten britischen Königsfamilie bestätigten die möglichen Identitäten mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Über die Entdeckung wurde heftig diskutiert. Viele
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