Optimum - Kalte Spuren
zurück. Aber sie schloss die Tür nicht. Rica achtete nicht mehr darauf. Sie musste das jetzt durchziehen, und zwar schnell, bevor die anderen Gelegenheit hatten, ihre Wut noch weiter an ihr auszulassen.
»Ich muss mit Simon sprechen!«, überschrie sie das immer lauter werdende Gemurmel. »Simon! Wir müssen reden. Sofort!«
Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen. Offensichtlich hatte niemand damit gerechnet, dass Rica auch etwas sagen wollte. Rica war es nur recht. Verwundert war ihr lieber als aufgehetzt und zum Töten bereit.
»Simon!«, rief sie wieder. »Willst du wirklich, dass es hier Verletzte oder sogar Tote gibt?«
Das Murren in der Menge wurde wieder lauter. Ein paar der Schüler – Rica war es nicht mehr möglich, einzelne Gesichter auseinander zu halten, sie sahen alle gleich aus, wie Marionetten in Simons Fingern – boxten einander in die Seite. Offensichtlich wollten sie sich gegenseitig ermutigen, endlich etwas zu tun. Rica sah, wie sich die ersten Hände wieder hoben, wieder flog etwas direkt an ihrem Kopf vorbei, allerdings war es dieses Mal nur ein Schneeball, der neben ihr an der Wand zerplatzte. Ricas Magen zog sich zusammen.
»Simon!«, wiederholte sie noch einmal. Keine Reaktion, aber jetzt setzten sich die ersten Schüler wieder in Bewegung. Wie ein Mann stürmte der Mob auf sie zu. In dem wilden Geschrei waren keine einzelnen Wörter mehr auszumachen.
Rica wich zur Wand zurück. Sie war versucht, einfach durch die Tür wieder nach drinnen zu schlüpfen, aber was hatte sie dann gewonnen? Sie musste einfach aushalten. Simon würde bestimmt auf sie eingehen. Bestimmt. Wenn er auch nur ein ganz kleines bisschen seinem Bruder ähnelte.
Die Menge brandete auf sie zu wie eine Welle an den Meeresstrand. Sarah und Vanessa führten die Meute an, aber ihre Gesichter waren so verzerrt, dass Rica nichts Bekanntes mehr darin erkennen konnte. Die beiden Mädchen, die mit ihr in eine Klasse gingen, schienen verschwunden. Zurückgeblieben waren nur zwei Furien, von denen eine jetzt tatsächlich ein langes Küchenmesser hervorzog und auf Rica zustürzte.
»Simon, bitte!«, rief Rica und schloss die Augen. Sie erwartete, jeden Moment von der Menge überrollt zu werden oder alternativ, dass Eliza sie ins Innere des Bunkers zog.
Nichts dergleichen geschah. Von einem Moment auf den anderen hörte das infernalische Gebrüll der anderen Schüler auf. Rica konnte hören, wie die Menge stolpernd zum Stehen kam. Wieder wurde Gemurmel laut, doch dieses Mal klang es eher verwirrt als verärgert.
Rica wagte es zu blinzeln, dann öffnete sie die Augen ganz. Das, was eben noch ein Mob gewesen war, war nur noch ein Haufen verwirrter und verfrorener Schüler. Sie standen in einer engen Gruppe zusammen und blinzelten ins Sonnenlicht, als ob sie eben erst erwacht seien.
Sie sehen aus wie hypnotisiert. Rica fand sich Auge in Auge mit Vanessa wieder, die sie mit einem dermaßen überraschten und erschrockenen Gesichtsausdruck musterte, dass Rica beinah lachen musste. Es sah einfach zu komisch aus.
»Ich wollte dich umbringen«, flüsterte Vanessa. Über dem Gemurmel der anderen war ihre Stimme kaum zu verstehen. »Ich wollte dich umbringen.«
»Ich weiß«, meinte Rica. Sie bemühte sich um einen locker-flockigen Tonfall, aber ihre Stimme zitterte dabei. »Es ist nicht deine Schuld.« Es ist Simons Schuld. Und wenn er will, kann er jederzeit dafür sorgen, dass du mich wieder umbringen willst.
Doch bevor sie noch irgendetwas anderes sagen und bevor sich Vanessa entschuldigen konnte, schob sich Simon an ihr vorbei, Jasmin im Schlepptau. Ohne auch nur irgendwem die geringste Beachtung zu schenken, baute der Junge sich vor Rica auf und stemmte die Hände in die Hüften.
»Was willst du von mir?«, wollte er wissen. Seine Augen waren so hart und kalt wie Glasmurmeln.
»Das könnte ich dich fragen«, erwiderte Rica. Ihre Stimme zitterte immer noch, und sie konnte spüren, wie sich trotz der Kälte Schweißtropfen in ihrem Nacken bildeten. Dieses Kerlchen ist gefährlich, mach dir nichts vor. Aber das tat sie gar nicht. Im Gegenteil, sie hatte eine solche Heidenangst vor ihm, dass sie an sich halten musste, nicht sofort wieder im Bunker zu verschwinden. »Ich hab dir nichts getan, weißt du?«
Simon zuckte mit den Schultern. Er richtete seinen Blick auf einen Punkt leicht über Ricas Kopf und schien überhaupt nicht daran interessiert zu sein, was sie sagte.
»Warum hetzt du sie gegen mich auf?«,
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