OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
Manuskript begann so: Erst hinter der letzten Wegbiegung kam das Gehöft in Sicht und wie jedes Mal schlug Amos’ Herz bei diesem Anblick schneller: das verwinkelte hölzerne Haupthaus, an das sich links ein baufälliger Stall, rechts der wacklig umzäunte Garten anschloss . Und ganz am Schluss, am Ende der allerletzten Seite, stand: Amos von Hohenstein gewidmet, der
Das Buch
vor der Vernichtung gerettet hat .
Das zweite Manuskript aber begann so: » Legt Amos von Hohenstein in Ketten. Verbindet seine Augen und knebelt ihn. Und was auch geschehen mag – ihr dürft ihm die Fesseln auf keinen Fall lösen. Hast du das verstanden, Waldo? « Und es endete gleichfalls mit einer Widmung: Für Klara Thalgruber, die
Das Buch
vernichtet und dadurch gerettet hat .
Amos und Klara drehten und wendeten die Blätter in ihren Händen hin und her. Geraume Zeit sagte niemand ein Wort.
»Also habt Ihr alles mitangesehen, Herr«, fragte Amos schließlich, »was wir erlebt und durchlitten haben?«
»Aber hättet Ihr«, setzte Klara hinzu, »dem schrecklichen Geschehen nicht irgendwann früher eine glückliche Wendung geben können? Schließlich habt Ihr selbst auf diesen Blättern beschrieben, was uns widerfahren ist.«
Kronus schüttelte den Kopf, und sein Gesicht drückte Mitgefühl und tiefes Bedauern aus. »Wie gerne hätte ich das getan«, sagte er, »aber am grundsätzlichen Verlauf dieser Geschichte konnte auch ich nicht das Geringste ändern. Was euch wirklich widerfuhr, war für mich nur ein vielfältig bewegtes Schattenspiel an den Wänden meiner Höhle, und das Einzige, was ich tun konnte, war, mit meiner eigenen Stimme und meinen eigenen Worten alles so getreu und kunstvoll wie möglich zu beschreiben.«
Er unterbrach sich und schaute sinnend auf die Manuskriptstapel in Amos’ und Klaras Händen. »Und das ist es wohl letzten Endes auch«, setzte er hinzu, »was einen guten Geschichtenerzähler ausmacht: Er vergisst niemals, dass seine Kunst nicht bloß ein Spiegel ist, in dem Geschehnisse einfach abgespiegelt würden, wie sie sich zugetragen haben oder wie sie stattgefunden haben könnten. Der gute Geschichtenerzähler weiß sehr wohl, dass es mindestens ebenso sehr seine magische Fabulierkunst ist, die seine Zuhörer oder Leser in ihren Bann zieht. Er veredelt lebendige Wirklichkeit zum hintergründig poetischen Sinnbild – nicht etwa, indem er irgendetwas verfälscht oder willkürlich verdreht, sondern indem er alles scheinbar Wirre und Zufällige durch seine Poesie so beleuchtet, dass der Leser den traumhaften Zusammenhang des Ganzen still für sich erahnt.«
Mattigkeit schien den alten Mann zu überkommen, mit unsicherer Hand suchte er Halt an seinem Pult. »Die alten Seher und Schriftmagier dagegen«, fuhr er jedoch mit fester Stimme fort, »machten sich selbst und ihre Anhänger glauben, dass sie bloße Werkzeuge und Schalltrichter höherer Mächte seien – doch dieGeister, die sie riefen, waren wohl vielfach nur dunkle Ahnungen und Ängste, verhohlene Wünsche und Begierden aus den Tiefen ihres eigenen Gemüts. Aber das habt ihr beide«, wandte er sich an Amos und Klara, »in Rogár ja auch selbst und rechtzeitig erkannt.«
Abermals schwieg er einen Moment lang und schaute sinnend ins Leere. »So wie Gott im Himmel die Heerschar seiner Geister befehligt«, sprach er in abschließendem Tonfall, »so muss auch der Dichtkünstler als strenger Gebieter über all die Stimmen und Schatten herrschen, die er in seinen Geschichten zu poetischem Leben erweckt. Nur so kann er in seinen Lesern die guten und hilfreichen magischen Kräfte entfachen, ohne zugleich die dunklen Mächte zu stärken.«
Kronus schloss kurz die Augen und in diesem Moment kam er Amos erschöpft und sterbensmüde vor. »Nur eines wünsche ich mir jetzt noch in diesem Leben«, setzte der alte Mann mit matter Stimme hinzu. »Möglichst bald ein druckfrisches
Buch der Geister
in Händen zu halten.«
Bis dahin blieb indessen noch einiges zu tun. Kronus musste sich noch einmal hinter sein Pult begeben, wo er sein halbes Leben verbracht hatte. Aufmerksam las er alle vier Geschichten von vorne bis hinten durch und erklärte dann, dass er nicht die geringste Abweichung von seinem Originalmanuskript gefunden habe. »Schon kleinste Veränderungen«, sagte er zu Amos und Klara, »können die Wirkung des Ganzen erheblich beeinflussen. Denkt nur an das weiße Pferd aus der zweiten Geschichte: Anfangs ließ ich es ohne jede Fellmusterung den Fluss
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