Ordnung ist nur das halbe Leben
Anja machte sich nichts aus dem ganzen Zeug, sondern spielte lieber freiwillig draußen.
Also gewöhnte ich mir an, meinen Eltern zu sagen, dass ich draußen spielen würde, um dann ein paar Straßen weiter zu meiner Tante zu laufen. Die freute sich, dass sie mit mir wenigstens »ein Mädchen« im Haus hatte. Wir sangen Lieder, kochten zusammen, und zur Belohnung für streifenfreies Putzen des Spiegels in der Diele bekam ich ein Dolomiti, bei dem die Kühlkette einwandfrei eingehalten worden war. Anders als bei uns zu Hause, wo Tiefkühlware gerne mal zwanzig Minuten rumstand, bevor sie ins Eisfach gesteckt wurde.
Tante Marianne schenkte mir auch die fast ungetragenen Kleider meiner Kusine, die Anja nicht mehr passten (sie war zwar ein Jahr jünger, aber schon immer ein ganzes Stück größer als ich) und die wirklich geschmackvoll waren im Gegensatz zu den bunten Fetzen, die meine Eltern für mich aussuchten. Zum ersten Mal verstand ich den Sinn des Satzes »Kleider machen Leute«, den Tante Marianne zu sagen pflegte. Ich wurde plötzlich viel weniger gehänselt in der Schule als vorher. Und Tante Marianne überzeugte ihre Schwester – meine Mutter – in einem großen Streit, dass ich mir die Haare wachsen lassen durfte.
Da es typisch war für meine Eltern, ihre Vorschriften als Vorschläge zu tarnen, behauptete meine Mutter hinterher, sie habe mir nie verboten , meine Haare wachsen zu lassen, sie habe nur das Beste für mich und mein feines, dünnes Haar gewollt, das einfach nicht geeignet sei für eine Langhaarfrisur. Mit zehneinhalb konnte ich zum ersten Mal eine Haarspange benutzen, die Sinn machte, und mit zwölf konnte ich mir endlich einen Pferdeschwanz binden. Es sah zwar nicht besonders gut aus – dafür war mein Haar tatsächlich etwas zu fein und dünn, aber ich betrachtete es dennoch als Erfolg. Nur die schnippischen Bemerkungen meiner Mutter nervten. Sie bemängelte zum Beispiel die Dauer des Trocknens nach dem Waschen und zwang mir eine Mütze auf, oder sie behauptete, dass es immer ziepe, wenn man lange Haare kämmt.
»Wenn mir Tante Marianne die Haare kämmt, ziept es nicht«, konterte ich, und daraufhin weigerte sich meine Mutter, mir fortan bei der Haarpflege zu helfen. Und das verbuchte ich dann wirklich als Erfolg, auch wenn ich nicht umhinkam, weiterhin ihre mäkelnden Blicke zu ertragen.
Als ich zu Hause auszog, reduzierten sich naturgemäß die Gelegenheiten für ungebetene Ratschläge und sinnlose Empfehlungen drastisch, und ich hoffte deswegen fälschlicherweise, meine Eltern hätten eingesehen, dass ich erwachsen war und mein eigenes Leben lebte. Doch seit dem Heiratsantrag drängten sie sich wieder monumental in den Vordergrund und setzten damit alles aufs Spiel, was mir wichtig war: meinen Mann und meinen Job.
Auf ihren oberpeinlichen Fernsehauftritt im letzten Sommer, der unsere Verlobungsfeier zu einer Katastrophe werden ließ, komme ich später. Zunächst möchte ich von dem Vorfall berichten, der dazu führte, dass mein neuer Job bei der Höveler & Wulf Vermögensverwaltungs- AG nach gerade überstandener Probezeit plötzlich wieder in Gefahr war.
Es passierte am Freitag, den 2. März. Mein Verlobter (ich liebe dieses Wort!) verbrachte die Mittagspause mit mir, anstatt wie sonst üblich mit seinem Chef. Auf dem Weg zu unserem Café nahm ich Jens’ kräftige Hand und freute mich im Stillen, dass unsere Arbeitsplätze beide am Kölner Neumarkt lagen. An diesem Tag war ich nämlich ziemlich nervös, weil ich nachmittags eine Konzeptpräsentation für einen neuen potenziellen Mandanten aus der Abteilung Superreich machen musste. Ich hatte mir extra einen neuen Hosenanzug von Betty Barclay gekauft, der fast so schön war wie der von Valentino, der bei meinem Bewerbungsgespräch einen unschlagbaren Eindruck hinterlassen hatte. Trotzdem wollte ich mir für meinen Vortrag noch ein paar Tipps von Jens geben lassen, der bei so was total cool und souverän war.
»Bitte«, sagte er und hielt mir die Tür zum Café auf. Er war ein echter Gentleman und sah sehr gut aus. Mit dunkelbraunen, dichten kurzen Haaren, die er akkurat zur Seite kämmte, graugrünen Augen hinter einer eckigen Hornbrille, einer eher kurzen Nase und einem Mund, dessen Winkel nach oben zeigten, sodass er immer ein bisschen aussah, als würde er lächeln. Er war einen Meter zweiundachtzig groß und damit perfekt für mich, um mit meinen eins achtundsechzig zu ihm aufzuschauen. Er trug meistens Anzüge in Grautönen,
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