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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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Schienen, dann Stille. Schlafschwere Stille.
    Die Sonne war untergegangen. Der Himmel hatte sich in flammende Flächen verwandelt, Topas, Smaragd, Amethyst. Lehne draußen vor meiner Tür an einer noch sonnenwarmen Säule, schaue hinaus auf den Platz, ringsum niedrige Gebäude mit bröckelnden ockerrosa Veranden. Vor dem krenelierten Bahnhof drei Spielzeuglastwagen. Niemand zu sehen, nicht einmal ein Hund. Die Größenverhältnisse ändern sich mit dem Licht am Himmel. Verlasse den kleinen Platz, stolpere auf der unendlichen Straße über einen purpurroten Berg. Ich strecke die Hand aus, will die weiße Wand eines Hauses berühren, sie liegt jenseits der Bahnstrecke, eine Meile entfernt. Das stachelige, büschelartige Gras sind Palmen, die in Formation durch einen Einschnitt im karminroten Fels marschieren. Die tiefe Schlucht hinter den Häusern entpuppt sich als Bewässerungsrinne im Sand. Frage mich, ob ich noch schlafe, und stolpere einen Felspfad hinunter, bewundere das breite Flusstal, trete hinein. Es war ein kleiner, fußbreiter Bach, der durch eine Ritze in der Mauer eines Dattelgartens sickerte. Unterdessen schraubte die Nacht rasch einen funkelnden Deckel auf ein unermessliches Chaos. Ein kühler Wind wehte. In Richtung Stadt flackerten ein paar Lagerfeuer. Eine Reihe zuckender Erdhügel waren schlafende Kamele; vermummte Gestalten scharten sich um die Feuer. Lampen in Hauseingängen, Schatten werfend. An einer Ecke standen drei algerische Soldaten in einem kahlen weißen Raum an einem grünen Tresen und tranken. Sie erklärten mir, dass Madame Mimosas Hotel an der nächsten Ecke sei. Dort gelangte man durch einen kleinen Kramladen in einen leeren Speisesaal, beleuchtet von einer Hängelampe, die Fensterläden fest verschlossen, damit kein Licht nach draußen in die Nacht drang.
    Nach dem Abendessen, Truthahn und Wüstentrüffel und Weißwein aus Philippeville, wieder hinaus auf die menschenleere Straße. Die niedrigen Häuser mit flachem Dach verschwinden unter den Sternen. Angespannte Stille erfüllt die Nacht. Ich gehe wie ein Riese über den flachen Häusern vorbei, schrumpfe plötzlich wie ein fallender Expresslift unter den hohen Sternen, ein Knirps, der auf winzigen Beinen daherwankt, das Herz pocht, schwach sprudelt das Blut durch ein Gewirr unendlich kleiner Röhrchen. Feine Flötenklänge tröpfeln durch die gespannte Nacht, leises Trommeln von zwei müden Händen. Der Mann, der gegen seinen Willen Buchstabensuppe aß, ist vergessen. Der Ire mit dem künstlichen Gebiss ist vergessen. Die kühlen hellen Flötenklänge kommen von überall her, das Trommeln wird lauter und tiefer, formt atemlose prächtige Landschaften aus dem Dunkel. Der Amerikaner, der nach Osten nach Süden reist und gegen seinen Willen Buchstabensuppe aß, sucht in seinem Zimmer, im Schutz der Rauchglaslampe neben dem breiten knarrenden Bett, Zuflucht vor diesen wandernden Klangdünen. Das ist die Einsamkeit, rufende Stimmen in der Wüste. Er zieht sich aus, putzt die Zähne, ordnet seine Sachen, liest ein wenig Lukrez, tut, als sei er in Buffalo, Savannah, Noisy le Sec, Canarsie. Das Plätschern der Flöte hat sich in den immer drängenderen Dünen der Trommelschläge verloren. Der heilige Antonius einsam in der Wüste dunklen Fleisches, der undurchschaubar pochenden Wüste.
    Der Ire mit dem künstlichen Gebiss war in Stambul aber nicht erschossen worden. Da er sich nicht in ein Krankenhaus wagte, wurde er von der Russin und ihrem Mann in einem alten Schafstall am Rande von Tophane gepflegt. Die drei fertigten Hampelmänner an, die die junge Frau mit Namen Olga abends vor dem Tokatlian verkaufte. Sie verkaufte mehr als das, und ihr Mann, der russischer Marineoffizier gewesen war, ohne je zur See gefahren zu sein, saß die ganze Nacht da und polierte stöhnend seine Stiefel. Der Ire stöhnte, weil ihn die Schulter schmerzte und weil er sein Gebiss verloren hatte. Sie sprachen französisch miteinander und lagen auf ausgemusterten Armeetragbahren, die ihnen als Bett dienten. Der Ire, der Jefferson Higgins hieß, war ein gälischer Pantheist. Als Kind hatte er in einem heruntergekommenen Milchgeschäft im County Cork lange Gespräche mit den Zwergen geführt. Der russische Offizier glaubte an Keuschheit und daran, das Fleisch zwecks Teufelsaustreibung mit Alkohol aufzuweichen. Trotzdem trank er nie. Olga glaubte an Hunger, Furcht und die Jungfrau Maria. Sie hasste Männer, ausgenommen diejenigen, die sie liebte. Während der langen

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