Orphan 1 Der Engel von Inveraray
Beherrschung zu verlieren. Es missfiel ihr, dass Constable Drummond ständig von dem Mädchen sprach, als habe es keine eigene Persönlichkeit, gerade so, als handele es sich um einen Hund oder ein Schwein. „Sie sind doch wohl nicht ernsthaft der Meinung, dass es sinnvoll ist, ein elfjähriges Kind in diesem modrigen Kerker festzuhalten und vor Gericht zu zerren ..."
„Leider bleibt uns nichts anderes übrig, Mrs. Blake", meinte Governor Thomson bedauernd. „Wenn es der erste Fehltritt des Mädchens wäre, könnten wir uns unter Umständen eine gewisse Milde erlauben. Unglücklicherweise hat es jedoch ein langes Vorstrafenregister wegen Diebstahls, was auch der Grund für seine erste Einweisung in mein Gefängnis war."
„Ihr Vater hat gestohlen, nicht sie", berichtigte Genevieve, die spürte, wie sie allmählich die Fassung verlor. „Er hat Charlotte gezwungen, ihr verkrüppeltes Bein zur Schau zu stellen, um die Gaffer abzulenken, während er deren Taschen leerte - ein Bein, das verwachsen ist, weil er es ihr in einem seiner betrunkenen Wutanfälle gebrochen hat."
„Es steht außer Zweifel, dass das Mädchen schwere Zeiten hinter sich hat", gab Governor Thomson zu. „Doch wie Sie wissen, lautet eine der Bedingungen Ihrer Vereinbarung mit dem Gefängnis, dass keins der Ihnen anvertrauten Kinder abermals mit dem Gesetz in Konflikt geraten darf, da Sie andernfalls die Vormundschaft über dieses Kind verlieren und es seine volle Strafe verbüßen muss.
Nur durch diese Einschränkung kann ich dem Gericht und den Bürgern von Inveraray eine gewisse Sicherheit bieten, dass diese Kinder keine Bedrohung für unser Gemeinwesen mehr darstellen. Charlotte hat das Gesetz gebrochen, und ich bin daher kraft unserer Vereinbarung gezwungen, Ihnen die Vormundschaft für sie zu entziehen und die Angelegenheit dem Gericht zu überantworten. Ich fürchte, eine andere Lösung gibt es nicht." Er wirkte, als wünschte er, es gäbe eine. „Wenn wir die Sache auf sich beruhen lassen, könnten die Bürger meine Vereinbarung mit Ihnen infrage stellen und darauf bestehen, dass alle Kinder, die den Rest ihrer Strafe unter Ihrem Dach verbüßen, auf der Stelle ins Gefängnis zurückgeschickt werden. Ich bin sicher, Lord und Lady Struther würden zu den Ersten gehören, die einen solchen Antrag unterstützten."
Genevieve erkannte, dass er Recht hatte. Tiefe Verzweiflung überkam sie.
„Das Gericht tritt erneut in drei Tagen zusammen", fuhr Governor Thomson fort.
„Dann haben Sie Gelegenheit, sich für das Mädchen einzusetzen. Vielleicht können Sie den Richter um Nachsicht bitten."
Drei Tage. Eine Ewigkeit für ein Kind, das in einer finsteren Gefängniszelle schmachtete! Doch Zeit genug, um zu versuchen, Mitgefühl bei Mr. Ingram und Lord und Lady Struther für Charlotte zu wecken und sie zu einer günstigen Zeugenaussage zu bewegen. Wenn die Opfer bereit waren, ihr zu verzeihen, würde der Richter gewiss Milde walten lassen.
Genevieve schluckte ihre Furcht hinunter und erhob sich langsam von ihrem Stuhl.
„Ich würde sie nun gern sehen", sagte sie und zwang sich, ruhig und gefasst zu wirken. Sie musste Charlotte den Eindruck vermitteln, dass alles ein gutes Ende nehmen würde.
„Natürlich." Governor Thomson stemmte sich aus seinem Stuhl und strich sich den zerknitterten Stoff seiner schwarzen Weste über seinem Wanst glatt. „Ich werde Sie persönlich begleiten."
Nur wenige Sonnenstrahlen fielen durch die engen Gitterstäbe des winzigen Fensters und tauchten die feuchtkalte Kerkerzelle in ein trübes Dämmerlicht.
Charlotte saß mit dem Rücken zur Wand auf ihrer Holzpritsche, das verkrüppelte Bein von sich weggestreckt, den Fuß auf einen umgedrehten Nachttopf gestützt. Sie trug ihren Hut und ihren Mantel und hatte sich im verzweifelten Versuch, sich zu wärmen, in die beiden dünnen Decken gewickelt, welche die Frau des Direktors ihr gegeben hatte. Sie wusste, dass sie umherlaufen sollte, um nicht völlig auszukühlen, doch ihr Bein schmerzte und sie fühlte sich im Augenblick einfach nicht in der Lage dazu.
„Hör auf zu glotzen, du widerliche Satansbraut, oder ich schneid dir das Herz raus und zerquetsch es in der hohlen Hand!"
Charlotte warf einen bangen Blick auf die Frau, mit der sie ihre Zelle teilte.
Margaret MacDuffie war ein kleines, stämmiges Weibsbild von etwa vierzig Jahren mit einem flachen, männlich wirkenden Gesicht, das finster unter dem schmutzigen braunen Schal hervorsah, den sie eng um
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