Orphan 1 Der Engel von Inveraray
den Kopf geschlungen trug. Ihre Nase war lang und hässlich. Sie begann recht ansehnlich zwischen ihren Brauen, krümmte sich dann jedoch zu einem dicken Höcker, bevor sie sich schließlich kurz über ihrer Oberlippe in eine unförmige Masse verwandelte. In einem ihrer seltenen halbwegs lichten Momente hatte Margaret Charlotte anvertraut, dass sie ihrem Ehemann, der sie regelmäßig verprügelt und ihr häufig die Nase zertrümmert hatte, eines Nachts aus Verzweiflung die Kehle durchgeschnitten hatte. Charlotte empfand trotz dieser entsetzlichen Tat Mitleid mit ihr, denn sie wusste, was es bedeutete, einem Trinker ausgeliefert zu sein, der die Fäuste sprechen ließ.
Sie zog die Decken enger um ihren Körper, stützte das Kinn auf die Brust und versuchte, ihrer Zellengenossin keine Beachtung zu schenken. Es war besser, Margaret zu ignorieren, wenn sie tobte oder Unsinn daherredete. Charlotte hatte die Erfahrung gemacht, dass die ältere Frau nur noch ungehaltener wurde, wenn man ihr antwortete.
Im Gang waren Schritte und das Klirren schwerer Schlüssel zu hören. Der schwache Schein einer Kerze erhellte die dämmrige Zelle, als die Tür sich knarrend öffnete.
„Genevieve!" rief Charlotte und wäre beim hastigen Aufstehen beinahe über den Nachttopf gestolpert.
Genevieve durchmaß raschen Schrittes die Zelle und schloss das zitternde Mädchen fest in die Arme.
„Charlotte, mein Liebes", flüsterte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor sie die Wange an das weiche Haar des Mädchens schmiegte. „Bist du wohlauf?"
„Ja." Charlotte vergrub ihr Gesicht in der tröstenden Wärme von Genevieves Mantel, der nach Seife und Zimt duftete. „Können wir jetzt nach Hause gehen?"
Genevieve schluckte heftig. „Aber gewiss doch", hätte sie gerne gesagt, sich umgedreht und Charlotte aus der dunklen, kalten Zelle geführt, fort von der seltsamen Frau, die in der Ecke hockte und sie unverhohlen anstarrte. Sie wollte an diesem bösartigen Wärter vorbeilaufen, der mit Spott im Blick beobachtete, wie sie ihre Tochter umarmte, und an Governor Thomson, gegen den sie einen ungeheuren Groll hegte, auch wenn sie verstand, dass er sich in einer heiklen Lage befand. Sie hätte Charlotte gerne mit nach Hause genommen, doch stattdessen hielt sie sie fest umschlungen, strich ihr übers Haar und zerbrach sich verzweifelt den Kopf darüber, was sie ihr antworten sollte.
„Ich lasse Sie nun allein", meinte Governor Thomson, stellte die Kerze auf eine schmale Holzbank und strich sich über seinen drahtigen Bart, bevor er hinzufügte:
„Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten, Mrs. Blake." Offenbar versuchte er wenigstens, zuvorkommend zu sein. „Rufen Sie einfach nach Sims, wenn Sie gehen wollen."
Die Tür fiel krachend ins Schloss.
„Komm, wir setzen uns dort drüben hin", schlug Genevieve vor und führte Charlotte zu der Holzpritsche. „So, das ist schon besser", sagte sie, zog das Mädchen in ihre Arme und küsste seine Stirn.
„Schon besser, schon besser", krächzte Margaret, die noch immer in ihrer Ecke kauerte.
„Ich kann nicht nach Hause gehen, nicht wahr?" Charlotte schaute Genevieve an, ihr Gesicht war aschfahl.
Genevieve verspürte einen Stich im Herzen. „Noch nicht sofort", erwiderte sie leise.
„Ich fürchte, du musst noch einige Tage hier bleiben, doch ich werde dich, sooft ich kann, besuchen und dafür sorgen, dass die Tage wie im Flug vergehen. Wir müssen die nächste Sitzung des Gerichts abwarten. Dann können wir mit dem Richter sprechen und ihm erklären, welch entsetzliches Missverständnis diese ganze Angelegenheit ist. Sobald er erkannt hat, wie schrecklich Leid dir die Vorkommnisse in Mr. Ingrams Laden tun, werde ich dich mit nach Hause nehmen können, und alles ist wieder in Ordnung."
Charlotte zitterte. „Ich habe bereits einmal vor Richter Trotter gestanden, und er hat mich zu Gefängnis und Einlieferung in eine Besserungsanstalt verurteilt."
„Weil er annahm, du hättest kein Zuhause." Genevieve bemühte sich, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu verleihen. „Wenn ich ihm erkläre, dass du bei mir lebst und dein Betragen - abgesehen von diesem einen Ausrutscher - stets vorbildlich war, wird er gewiss einsehen, dass es das Beste für alle ist, wenn du zurück nach Hause kommst."
„Nach Hause, nach Hause", sang Margaret vor sich hin und brach dann in schrilles Gelächter aus.
Genevieve zog Charlotte näher an sich heran. „Ich werde auch versuchen,
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