Orphan 1 Der Engel von Inveraray
Fehlverhalten vor Augen zu führen, und es nie wieder zu einem solch bedauernswerten Zwischenfall kommen wird."
„Mrs. Blake ist nicht in der Lage, ein so weit reichendes Versprechen zu machen", entgegnete Mr. Fenton. „Im Augenblick befinden sich sechs Kinder in ihrer Obhut, die alle in diesen abscheulichen Überfall verwickelt waren und bereits wegen schwerer Verbrechen vor diesem Gericht gestanden haben ..."
„Das ist nicht wahr!" widersprach Genevieve. „Meinem Bruder Jamie ist nie ein Vergehen zur Last gelegt worden."
„Ich bitte um Verzeihung, Euer Ehren", sagte der Staatsanwalt gereizt, wobei sein hummerroter Schnurrbart zuckte. „Offenbar befindet sich tatsächlich ein Kind in Mrs. Blakes Obhut, das bisher noch nicht vorbestraft ist. Allerdings untersuchen wir augenblicklich auch seine Rolle in dem barbarischen Überfall auf Mr. Ingram und Lord und Lady Struther." Er warf Genevieve einen bedeutungsschwangeren Blick zu.
Genevieve verließ der Mut. Mr. Fenton hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nur zu gern auch ihre anderen Kinder vor den Richter bringen würde.
„Wie dem auch sei", fuhr er in lebhaftem Ton fort, „die Tatsache, dass die Angeklagte rückfällig geworden ist, zeigt deutlich, dass die von Mrs. Blake in ihrem Hause geschaffene Umgebung ihr nicht zuträglich war und die Angeklagte daher zurück ins Gefängnis geschickt und angemessen bestraft werden sollte - zu ihrem eigenen Wohl und dem Wohl der Gesellschaft."
„Bei allem gebotenen Respekt, Euer Ehren", warf Mr. Pollock ein, „die Angeklagte wieder ins Gefängnis zu schicken würde weder ihr noch der Gesellschaft dienlich sein. Nur wenn dieses Kind zu seiner Mutter und seinem Vater nach Hause zurückkehren darf, wo ihm eine liebende, gesetzestreue Familie als Vorbild dient, hat es eine Chance, seinen Fehler einzusehen und sich zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln."
„Diese so genannte gesetzestreue Familie besteht nur aus Dieben und Gossenkindern, abgesehen von Mr. und Mrs. Blake natürlich", bemerkte Mr. Fenton verächtlich. „Die Kinder werden von zwei Frauen und einem Mann betreut, die alle drei wegen Diebstahls eingesessen haben. Diese lassen sich wohl kaum als Vorbilder für Gesetzestreue und Wohlanständigkeit bezeichnen. Eine solche Umgebung ist für die Angeklagte gewiss nicht geeignet - zumal sie ihre Unfähigkeit, ihre angeborenen kriminellen Neigungen zu beherrschen, ja bereits unter Beweis gestellt hat."
„Sie hat keine angeborenen kriminellen Neigungen", widersprach Genevieve hitzig und versuchte, die Gelegenheit zu ergreifen, um etwas zu Charlottes Verteidigung zu sagen. „Sie ist nur ein unbescholtenes Kind, das einen Fehler begangen hat..."
„Mrs. Blake, ich fürchte, ich muss Sie daran erinnern, dass Sie nur Fragen beantworten dürfen, die Ihnen von einem der Anwälte oder mir selbst gestellt werden", unterbrach der Richter.
„Dann sollte jemand eine Frage an mich richten!" erwiderte sie heftig.
Der Richter blinzelte, offenkundig erstaunt über ihren kämpferischen Tonfall. „Mr. Pollock, haben Sie irgendwelche Fragen an Ihre Zeugin?"
Der Verteidiger überflog seine Notizen. „Mrs. Blake", begann er schließlich, „würden Sie dem Gericht freundlicherweise mitteilen, warum Sie glauben, dass Charlotte erneut Ihrer Obhut unterstellt werden sollte?"
„Als Charlotte vor einem Jahr zu mir kam, hat sie kaum mit jemandem gesprochen", antwortete Genevieve. „Elend und Gewalt prägten ihr Leben mit ihrem Vater. Er war ein brutaler Trunkenbold, der sie schlug und sie zwang, ihm bei seinen Diebereien behilflich zu sein, was sie schließlich vor den Richter brachte ..."
„Und inwiefern hat sie sich verändert, seit sie bei Ihnen wohnt?" hakte Mr. Pollock nach, der spürte, dass die Geduld des Richters sich dem Ende zuneigte. Geschichten von vernachlässigten und von ihren Eltern oder Vormündern misshandelten Kindern waren etwas Alltägliches und kaum ein Grund, Milde walten zu lassen, wenn es um Gesetzesübertretungen ging.
„Sie ist ein anderes Mädchen geworden", erwiderte Genevieve. „Als sie endlich erkannt hatte, dass niemand in ihrem neuen Zuhause je die Hand gegen sie erheben würde, gestattete sie sich langsam, das Kind zu sein, das sie war. Sie begann allmählich zu sprechen, zu lächeln und dann sogar zu lachen. Mittlerweile ist sie eine eifrige Schülerin und hat erstaunlich schnell lesen und schreiben gelernt. Sie erledigt ihre Haushaltspflichten mit
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