Orphan 1 Der Engel von Inveraray
verband.
Genevieve hastete durch den Raum, schlang die Arme um das Mädchen, tastete es ab, um sich zu vergewissern, dass es gesund und wohlbehalten war, und bedeckte seine Wangen, seine Stirn und sein Haar mit Küssen. Jamie, Annabelle, Grace und Simon kicherten und jubelten vergnügt, als sie ihr Versteck in der Diele verließen.
„Überraschung, Genevieve!"
„Bist du nicht froh, dass Haydon die Tür geöffnet hat?"
„Siehst du, du hast uns gesagt, Charlotte würde wieder nach Hause kommen, und nun ist sie da!"
„Willst du sie nicht ihren Mantel ausziehen lassen?"
„Warum weinst du immer noch, Genevieve?"
Genevieve vergrub ihr Gesicht in Charlottes Haar und begann hemmungslos zu schluchzen, als ihre unterdrückten Gefühle sich Bahn brachen. Die Kinder beobachteten sie betroffen, unfähig, ihren offensichtlichen Kummer zu begreifen, wo es doch so viel zu feiern gab. Nur Charlotte schien sie zu verstehen, denn sie begann ebenfalls zu weinen, und das Schluchzen der beiden vertrieb die Freude, welche die anderen Kinder erfüllt hatte.
„Kommt, meine Küken", sagte Eunice und wischte sich mit dem Saum ihrer Küchenschürze die Nase, während sie gegen die eigenen Tränen ankämpfte. „Wir wollen Miss Genevieve und Charlotte ein wenig allein lassen."
Doreen schnäuzte sich hörbar. „In der Küche warten ein paar knusprige Fladenbrote auf uns."
„Ich glaube, ein kleiner Spaziergang wäre jetzt genau das Richtige", meinte Oliver mit erstickter Stimme.
„Nein." Genevieve schüttelte den Kopf und hielt Charlotte dabei fest umschlungen.
„Ich möchte meine Kinder um mich haben." Als sie die Arme ausbreitete, stürzten die Kinder sich wie eine gewaltige Woge auf sie und umgaben Charlotte und sie mit einem Ring aus Liebe. Genevieve herzte und küsste ein jedes von ihnen. Ein überwältigendes Gefühl der Fürsorglichkeit erfasste sie, und sie schwor sich, keins ihrer Kinder je wieder aus den Augen zu lassen.
Erst als Oliver die Tür schloss, bemerkte sie plötzlich, dass Jack nicht mehr da war und Haydon sich leise zurückgezogen hatte, wodurch ihre laute, plappernde Familie seltsam unvollständig wirkte.
Die Nacht hatte ihre samtenen Schwingen über das Haus gebreitet, als Genevieve im schwachen Schein ihrer Kerze die schmale Holztreppe erklomm. Die Kinder schliefen alle wohl behütet in ihren Betten, und dem regelmäßigen Schnarchen nach zu urteilen, das sie im dritten Stock begrüßte, galt das auch für Oliver, Eunice und Doreen. Die kühle Nachtluft ließ sie leicht frösteln, als sie vor Haydons Zimmertür stehen blieb und lauschte. Kein Laut drang an ihr Ohr. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Wenn er laut geschnarcht hätte, wäre sie rasch die Treppe hinabgestiegen, hätte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und sich gesagt, sie würde ein anderes Mal mit ihm sprechen. Doch die Stille hinter der Tür erschien ihr förmlich ohrenbetäubend. Irgendwie wusste sie, dass er nicht schlief, sondern wach lag und gehört hatte, dass sie sich allein im Gang aufhielt. Sie zögerte einen langen Augenblick. Schließlich klopfte sie an die Tür.
Noch bevor ihre Fingerknöchel das Holz berührt hatten, wurde die Tür geöffnet, und Haydon stand vor ihr, nackt bis auf die Bettdecke, die er sich nachlässig um die Hüften geschlungen hatte. Im flackernden Schein der Kerze wirkten seine muskulösen Arme, seine Brust und sein Rumpf wie gemeißelt. Er betrachtete sie aufmerksam. Ihr kam es so vor, als habe er sie erwartet.
Genevieves Mut begann zu sinken, während sie ihn anstarrte. Sie wollte eigentlich gehen, doch stattdessen zupfte sie ihr weiches, wollenes Schultertuch zurecht und schlüpfte an Haydon vorbei in das dunkle Zimmer. Sie stellte die Kerze auf den kleinen Tisch neben dem schmalen, zerwühlten Bett.
In einer Ecke des Raums stand ein schlichter Kleiderschrank, in der anderen ein niedriger Waschtisch, der dringend eines neuen Anstrichs bedurfte, darauf ein angeschlagener Krug und eine mit einem plumpen Rosendekor bemalte Waschschüssel. Die Einrichtung war ihr sauber und freundlich genug vorgekommen, als sie das Zimmer für Doreen hergerichtet hatte, doch für einen Mann von Haydons Statur und Vermögen war es hoffnungslos eng, schäbig und spartanisch. Der Marquess of Redmond war zweifellos an weitläufige, luxuriöse Räumlichkeiten gewöhnt, und hier schlief er in einer Dienstbotenkammer, in der es nicht einmal einen Stuhl gab. Ein Schauer durchrieselte sie, und
Weitere Kostenlose Bücher