orwell,_george_-_1984
stehen geblieben, weil er erschrak. Ein gebeugtes, graufarbenes, skelettartiges Etwas kam auf ihn zu. Sein tatsächliches Aussehen und nicht nur die Tatsache, daß er wußte, daß er das selbst war, war erschreckend. Er trat näher an den Spiegel heran. Das Gesicht des Wesens schien infolge seiner gebeugten Haltung vorgeschoben. Ein verzweifeltes Verbrechergesicht mit einer edlen Stirn, die in eine glatzköpfige Schädelhaut auslief, eine Hakennase und entstellt aussehende Backenknochen, darüber wilde, wachsame Augen. Die Wangen waren zerschunden, der Mund eingefallen. Es war freilich sein eigenes Gesicht, aber es schien ihm mehr verändert, als er sich innerlich verändert hatte. Er war stellenweise glatzköpfig geworden. Im ersten Augenblick hatte er gemeint, zugleich auch grau geworden zu sein, aber es war nur die Kopfhaut, die grau war. Mit Ausnahme seiner Hände und des Ovals seines Gesichts war sein ganzer Körper grau von altem, in die Haut eingefressenem Schmutz. Da und dort waren unter dem Schmutz die roten Narben von Wunden zu sehen, und die Krampfaderknoten an seinem Fußknöchel bildeten eine entzündete Masse, von der sich Hautfetzen abschälten. Aber das wirklich Erschreckende war die Abgezehrtheit seines Körpers. Die Rippen seines Brustkorbes zeichneten sich deutlich ab wie bei einem Skelett; das Fleisch der Beine war so geschunden, daß die Knie dicker waren als die Oberschenkel. Jetzt ging ihm ein Licht auf, was O'Brien damit gemeint hatte, als er sagte, er sollte sich von der Seite ansehen. Die Rückgratverkrümmung war erstaunlich. Die mageren Schultern fielen nach vorne, als sollte an Stelle der Brust eine Höhlung entstehen; der dünne Hals schien vom Gewicht des Schädels gebeugt. Auf den ersten Blick hätte er gesagt, es handle sich um den Körper eines Sechzigjährigen, der an einer bösartigen Krankheit litt.
»Sie haben manchmal gedacht«, sagte O'Brien, »mein Gesicht – das Gesicht eines Mitglieds der Inneren Partei – sehe alt und verbraucht aus. Was denken Sie nun über Ihr eigenes Gesicht?«
Er ergriff Winston bei der Schulter und drehte ihn herum, so daß er Angesicht zu Angesicht vor ihm stand.
»Sehen Sie sich Ihren Zustand an!« sagte er. »Betrachten Sie die schmierige Schicht, die Ihren ganzen Körper bedeckt. Schauen Sie den Schmutz zwischen Ihren Zehen an. Sehen Sie die scheußliche wässernde Wunde an Ihrem Bein. Wissen Sie, daß Sie stinken wie ein Bock? Vermutlich merken Sie es nicht mehr. Schauen Sie sich Ihre Magerkeit an. Sehen Sie? Ich kann Ihren Bizeps mit Daumen und Zeigefinger umfassen. Ich könnte Ihren Hals abbrechen wie eine Mohrrübe. Wissen Sie, daß Sie fünfundzwanzig Kilo eingebüßt haben, seit Sie in unseren Händen sind? Sogar Ihr Haar geht büschelweise aus. Sehen Sie her!« Er ergriff Winstons Schopf und hielt ein Büschel Haare in der Hand. »Machen Sie den Mund auf. Neun . . . zehn . . . elf Zähne sind übriggeblieben. Wie viele hatten Sie, als Sie zu uns kamen? Und die paar, die Sie noch haben, fallen aus. Schauen Sie her.«
Er packte einen von Winstons restlichen Schneidezähnen zwischen seinem starken Daumen und Zeigefinger. Ein stechender Schmerz durchfuhr Winstons Kiefer. O'Brien hatte den lockeren Zahn mit der Wurzel herausgedreht. Er schnippte ihn durch die Zelle.
»Sie verfaulen schön langsam«, sagte er, »Sie lösen sich in Ihre Bestandteile auf. Was sind Sie? Ein Haufen Unrat. Nun drehen Sie sich um und schauen Sie noch einmal in diesen Spiegel. Sehen Sie das Wesen, das Sie daraus anblickt? Es ist der letzte Mensch. Wenn Sie menschlich sind, so ist das die Menschheit. Jetzt ziehen Sie Ihre Kleider wieder an.«
Winston begann sich mit langsamen, steifen Bewegungen anzuziehen. Bis jetzt hatte er scheinbar nicht bemerkt, wie mager und schwach er war. Nur ein Gedanke beschäftigte ihn: daß er länger, als er gedacht hatte, hier gewesen sein mußte. Dann, als er die elenden Lumpen um sich hüllte, überfiel ihn ein Gefühl des Mitleids mit seinem zugrunde gerichteten Körper. Ehe er wußte, was er tat, war er auf einen neben dem Bett stehenden kleinen Schemel gesunken und in Tränen ausgebrochen. Er war sich seiner Häßlichkeit, seines unerquicklichen Anblicks bewußt, wie er als ein Bündel Knochen in schmutziger Unterwäsche in dem grellen weißen Licht dasaß und heulte: aber er konnte sich nicht beherrschen. O'Brien legte ihm, fast begütigend, die Hand auf die Schulter.
»Es dauert nicht ewig«, sagte er. »Sie können dem
Weitere Kostenlose Bücher