Das Karpatenschloß
Jules Verne
Das Karpatenschloß
Mit 40 Illustrationen von Léon Benett
Titel der Originalausgabe:
Le Château des Carpathes (Paris 1892)
Nach zeitgenössischen Übersetzungen
überarbeitet von Günter Jürgensmeier
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Die folgende Erzählung
ist nicht phantastisch,
sie ist nur romantisch.
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Es würde ein Irrtum sein, wegen ihrer Unwahrscheinlich-
keit zu glauben, daß sie nicht wahr wäre. Wir leben in ei-
ner Zeit, wo alles möglich ... ja man wäre berechtigt zu
sagen, wo alles schon vorgekommen ist. Wenn unsere Er-
zählung heute auch nicht wahrscheinlich sein sollte, so ist
sie es vielleicht schon morgen, dank der wissenschaftlichen
Hilfsmittel, die sich der Zukunft bieten, und dann würde es
niemandem in den Sinn kommen, sie als sagenhaft zu be-
zeichnen. Heute, nah dem Abschluß des so praktischen, so
positiven 19. Jahrhunderts, entstehen übrigens keine Sagen
mehr, weder in der Bretagne, dem Gebiet der wilden Korri-
gans, noch in Schottland, der Heimat der Brownies (Hein-
zelmännchen) und der Gnomen; weder im sagenumwobe-
nen Norwegen, dem Vaterland der Asen, Elfen, Sylphen und
Walküren, noch auch in Transsilvanien (Siebenbürgen), wo
die mächtige Kette der Karpaten für Geisterbeschwörungen
und Geistererscheinungen einen so günstigen Boden bietet,
obwohl wir hierzu die Bemerkung nicht unterdrücken dür-
fen, daß gerade im transsilvanischen Land der Aberglaube
früherer Zeiten noch in üppiger Blüte steht.
Gerando hat dieses entlegene Gebiet Europas beschrie-
ben, Elisée Reclus hat es besucht. Beide erwähnen nichts
von den Vorkommnissen, worauf unsere Erzählung beruht.
Vielleicht hatten sie davon Kenntnis, wollten ihnen aber
keinen Glauben beimessen. Das ist schon deshalb zu be-
dauern, weil der eine diese Ereignisse mit der Verläßlichkeit
des Geschichtsschreibers wiedergegeben, der andere sie mit
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dem unbewußten poetischen Schwung geschildert hätte,
der seine Reiseberichte so vorteilhaft auszeichnet.
Da das also beide unterlassen haben, will ich versuchen,
es für sie zu tun.
Am 29. Mai eines der letzten Jahre hütete ein Schäfer
seine Herde am Rand eines grünen Wiesenplans am Fuß
des Retyezat, der ein mit geradästigen Bäumen besetztes
und mit reichen Ackerfeldern geschmücktes Tal überragt.
Über jene offene, ganz schutzlose Hochfläche streichen zur
Winterszeit die Galernen, das sind die scharfen, schneiden-
den Nordwestwinde, wie das Messer des Barbiers. Man sagt
dann auch dort zu Lande, daß die Höhe sich – und zuweilen
sehr glatt – »rasiert«.
Jener Schäfer zeigte in seinem Äußeren nichts Arkadi-
sches und auch nichts Bukolisches in seiner Haltung. Es
war kein Daphnis, Amyntas, Tityros, Lycidas oder Meliböus.
Der Lignon murmelte nicht zu seinen mit plumpen Holz-
schuhen beschwerten Füßen; die walachische Sil war es, die
mit ihrem klaren, frischen Gewässer würdig gewesen wäre,
durch die Windungen des Romans ›Astrée‹ zu fließen.
Frik, Frik aus der Dorfschaft Werst – so nannte sich der
ländliche Hirt – selbst ebenso vernachlässigt wie seine Tiere,
schien wie geschaffen, mit in dem am Eingang des Dorfs er-
richteten schmutzigen Nest zu wohnen, in dem auch seine
Schafe und Schweine in empörendem Schlamm und Unrat
hausten, wie das übrigens für alle Schäfereien des Komitats
gleichermaßen zutrifft.
Das immanum pecus weidet also unter der Obhut des ge-
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nannten Frik ... immanior ipse. Auf einem Haufen zusam-
mengetragenen Grases ausgestreckt, schlief er mit dem ei-
nen und wachte mit dem anderen Auge, immer die dicke
Tabakspfeife im Mund; nur dann und wann rief er seine
Hunde an, wenn sich ein Lamm zu weit vom Weideplatz
verirrte, oder ließ er einen schrillen Pfiff ertönen, den das
Echo von den Bergwänden vielfach wiederholte.
Es war jetzt 4 Uhr nachmittags. Die Sonne begann zu
sinken. Einzelne Felsengipfel im Osten, deren Fuß sich
in wallenden Dunstwolken badete, erglänzten schon im
Abendlicht. Nach Südwesten zu ließen zwei Lücken der
Bergkette ein schräges Strahlenbündel hereinfallen, so wie
ein Lichtstreifen durch wenig geöffnete Türen dringt.
Das Gebirgssystem der Gegend gehörte zu dem wildes-
ten Teil Transsilvaniens, der im Komitat Klausenburg oder
Kolosvar zu suchen ist.
Ein merkwürdiges Bruchstück des österreichischen Kai-
sertums, dieses Transsilvanien, das »Erdely« in magyari-
scher Sprache, das heißt »das Land der
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