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orwell,_george_-_1984

Titel: orwell,_george_-_1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
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öffnen. Er hatte sich seit langem daran gewöhnt, bei grell in sein Gesicht scheinendem Licht zu schlafen. Es schien ihm nichts auszumachen, außer daß die Träume mehr Zusammenhang bekamen. Er träumte diese ganze Zeit hindurch viel, und immer waren es glückhafte Träume. Er weilte in dem Goldenen Land oder saß zwischen riesigen, prächtigen, sonnenbeschienenen Ruinen mit seiner Mutter, mit Julia, mit O'Brien – ohne etwas zu tun, sondern einfach so in der Sonne und plauderte von friedlichen Dingen. Soweit er überhaupt Gedanken hatte, wenn er wach lag, drehten sie sich meistens um seine Träume. Die Kraft zu einer geistigen Anstrengung schien ihm abhanden gekommen zu sein, jetzt, wo der Erregungsfaktor des Schmerzes nicht mehr mitwirkte. Er empfand keine Langeweile, verspürte kein Verlangen nach Unterhaltung oder Zerstreuung. Er wollte nur eben allein sein, nicht geschlagen oder verhört werden, genug zu essen haben und am ganzen Körper sauber sein – mehr wollte er nicht.
    Allmählich verbrachte er weniger Zeit mit Schlafen, verspürte aber noch immer keine Lust, das Bett zu verlassen. Ihn verlangte nur danach, still dazuliegen und zu fühlen, wie die Kraft in seinen Körper zurückkehrte. Er befühlte sich da und dort und versuchte sich zu überzeugen, daß es keine Täuschung war, daß seine Haut sich straffte und seine Muskeln runder wurden. Endlich stand außer Zweifel fest, daß er an Gewicht zunahm; seine Oberschenkel waren jetzt deutlich dicker als seine Knie. Danach begann er, zuerst widerwillig, regelmäßig körperliche Übungen zu machen. Schon bald konnte er drei Kilometer laufen, wie er an seinen Schritten in der Zelle abmaß, und seine gebeugten Schultern wurden gerader. Er versuchte schwierigere Übungen und war erstaunt und gedemütigt bei der Entdeckung, was er alles nicht fertig brachte. Er konnte unterm Gehen keine anderen Bewegungen machen, konnte seinen Schemel nicht auf Armeslänge hinaushalten, konnte nicht auf einem Bein stehen, ohne seitlich umzukippen. Er hockte sich auf seine Fersen nieder und entdeckte, daß es ihm mit qualvollen Schmerzen in Schenkeln und Waden nur eben gelang, sich zu stehender Stellung aufzurichten. Er legte sich flach auf den Bauch und versuchte, sich mit aufgestützten Händen hochzustemmen. Es war hoffnungslos, er konnte sich keinen Zentimeter vom Boden hochheben. Aber nach ein paar weiteren Tagen – ein paar weiteren Mahlzeiten – gelang ihm auch dieses Kunststück. Es kam eine Zeit, als er es sechsmal hintereinander fertig brachte. Er begann richtig stolz zu werden auf seinen Körper und sich dem heimlichen Glauben hinzugeben, auch sein Gesicht werde wieder normal. Nur wenn er zufällig die Hand auf seinen kahlen Schädel legte, fiel ihm das zerschundene, zerstörte Gesicht ein, das ihn aus dem Spiegel angeblickt hatte.
    Sein Geist wurde wacher. Er setzte sich auf die Pritsche, mit dem Rücken zur Wand und die Schreibtafel auf seine Knie gelegt, und machte sich behutsam daran, seinen Geist wieder zu üben.
    Er hatte kapituliert, soviel stand fest. In Wahrheit war er, wie er nun erkannte, bereit gewesen zu kapitulieren, lange ehe er den Entschluß dazu gefaßt hatte. Von dem Augenblick an, als er sich in dem Ministerium für Liebe befand – ja sogar schon während der Minuten, als er und Julia hilflos dagestanden hatten, während ihnen die eiserne Stimme aus dem Televisor sagte, was sie tun sollten –, hatte er die
    Leichtfertigkeit, die Oberflächlichkeit seines Versuches, sich gegen die Macht der Partei aufzulehnen, voll erkannt. Er wußte jetzt, daß ihn die Gedankenpolizei sieben Jahre hindurch wie einen Käfer unter einem Vergrößerungsglas beobachtet hatte. Es gab keine körperliche Verrichtung, kein laut gesprochenes Wort, das sie nicht wahrgenommen hatten, keinen Gedankengang, den sie nicht im voraus gewußt hätten. Sogar das weiße Staubkörnchen auf dem Einband seines Tagebuches hatten sie sorgfältig wieder ersetzt. Sie hatten ihm Wachsplattenaufnahmen vorgespielt, ihm Fotografien gezeigt. Einige davon waren Fotografien von Julia und ihm. Ja, sogar . . . Er konnte nicht länger gegen die Partei ankämpfen. Außerdem war die Partei im Recht. Sie mußte es sein: denn wie konnte der unsterbliche kollektive Geist irren? Mit welchem äußeren Maßstab konnte man seine Werte nachprüfen? Das Urteil des gesunden Menschenverstandes stand statistisch fest. Es war lediglich eine Frage, so denken zu lernen, wie sie dachten. Nur –!
    Der Bleistift

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