Ostseeliebe
hatte ihm nicht nur die Aura des Tragischen verliehen, er hatte ihn auch davor bewahrt, gewaltige Mengen langatmiger Altersprosa aufzuhäufen, an der sich Generationen von Studenten mit zunehmendem Haß die Zähne hätten ausbeißen müssen.
Nein, Hansjörg Ladestein hatte die Güte besessen, sich rechtzeitig aus diesem irdischen Dasein zu verabschieden - unter Zurücklassung etlicher Gedichtbände und einiger Theaterstücke sowie diverser Kisten, die vielversprechende Manuskripte bargen, Romananfänge und in verzwickter Handschrift hingestrichelte Korrespondenz, ein luftiges, häufig frivoles Tagebuch, das deshalb besonders charmant wirkte, weil Ladestein offenbar wirklich nicht mit einer Veröffentlichung geliebäugelt hatte. Liebäugeln war seine Sache ohnehin nicht. Der packte zu. Beim Trinken. Beim Schreiben. In dieser Reihenfolge leider. Aber immerhin: Das verschaffte ihr Arbeit. Wenigstens für ein Jahr, ein Jahr, in dem gesichtet und sortiert, gelesen und katalogisiert werden konnte. »Du solltest Ladestein in deine Nachtgebete
einschließen!« hatte Jeanette gemeint, »als Dank für euer kleines Bündnis für Arbeit.«
Und Julia, die in einem Berliner Archiv bisher nur die fehlerhaften Abschriften der wichtigsten Manuskripte zu sehen bekommen hatte, war geradezu feierlich zumute, daß sie die erste - oder nun ja, beinahe die erste - sein sollte, die die originalen Schriften Ladesteins zu Gesicht bekommen würde. »Du redest darüber, als wolltest du den Kerl entjungfern!« hatte Jeanette respektlos angemerkt, und da war etwas Wahres dran: Julia pflegte ein fast sinnliches Verhältnis zu ihrem Dichter.
Mein Gott, das mußte man auch! Wie sonst sollte man es vier, sechs Monate lang mit einem toten Autor aushalten, der, zugegeben, eigentlich eher merkwürdig als ausgesprochen attraktiv ausgesehen hatte. Ein eher mickriger Großstadtdichter der zwanziger Jahre, den es im Sommer immer wieder auf diese eine, auch damals schon unmoderne Ostseeinsel gezogen hatte.
Es hatte ja schon etwas Altmodisches, dachte Julia, einem Dichter so hinterherreisen zu müssen, im Zeitalter von E-Mail und Internet. Aber so komfortabel ausgestattet war man auf der Insel noch nicht, vor allem im wissenschaftlichen Bereich nicht. Der bestand, genaugenommen, aus einem kleinen Haus am Dünenhang und nannte sich stolz: Gedenkstätte.
Das Boddengewässer blubberte, es kam Julia vor wie ein dösendes Tier. Es gluckste verschlafen, es duckte sich. Und das sollte die See sein? Offenes Meer? Julia blinzelte in die Dunkelheit. In größerer Entfernung waren Lichter zu erkennen, Laternen und beleuchtete Häuser. Die Ostsee tat ja nur so. Die drückte sich zwischen Häusern und Inseln herum wie ein streunender Hund. Julia trank das schon schale Bier in einem Zug aus.
Mit einem Ruck riß sie die Tür zum Gastraum wieder auf: Unterwegs sein mit Boddenfähren, das hatte sie sich anders vorgestellt. Und wehmütig dachte sie an Amrum, an Föhr, an die offenherzigen, großzügigen Inseln der Nordsee. Dorthin gelangte man mit richtigen Schiffen, an die richtige Wellen schlugen. Da merkte man, daß man reiste, daß man unterwegs war, daß es weiterging irgendwie, aber hier, in dieser undurchdringlichen Ostseenacht, bewegte sich kaum etwas, es schien nicht vorwärtszugehen, und der Gleichmut der anderen Passagiere begann Julia nun zu reizen. Was, wenn es überhaupt nie weiterginge, wenn das Leben, wie in einem angehaltenen Film, einfach stehenbliebe, immer das gleiche verzerrte Standbild vom eigenen Leben. Julia fröstelte. Hielten nicht alle ihr Leben in Wahrheit überhaupt nur deswegen aus, weil sie sich einbildeten, daß es weiterlaufen würde, vielleicht nicht gerade geordnet, schon gar nicht sinnfällig auf ein Ziel zu, aber der morgige Tag würde doch anders beginnen als der heutige, in einem Jahr hätte die Nachbarin noch mehr Sorgenfalten, hätte der Mann der liebsten Tante vielleicht einen kleinen Sieg gegen den Krebs errungen. Es veränderte sich etwas. Glaubte man. Redete man sich ein. Nur hier nicht. Hier wurde man auf sich selbst geworfen, unbarmherzig, unerbittlich, still. Julia ließ sich in einen der Sessel fallen. Was für ein Abend. Plötzlich vermißte sie Jeanette.
»Und du bist sicher, daß sie uns abholt?« Das war die blasse junge Frau, deren abgekämpfte Unscheinbarkeit ihr vorhin aufgefallen war. Ein Gesichtsausdruck wie immerzu Faltenröcke tragen müssen. Eine Stimme wie nie klagen dürfen.
»Natürlich wird sie uns
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