Ostseeliebe
klare, scharfe Entscheidungen. Leben, Tod. Eis, Wärme. Küsse, Küsse.
»Danke, daß du mir mein Fahrrad zurückgebracht hast«, murmelte sie noch, dann redeten sie nicht mehr.
Es sollte für einige Zeit die letzte Nacht sein, die sie ungestört miteinander teilten. Denver, das alte Pferd, wurde krank. Die Expedition auf dem Eis war für den über zwanzigjährigen Wallach zuviel gewesen. Hanno wachte Tag und Nacht bei dem Tier, ließ sich nur ungern von Willem Johannsen ablösen. In der Box nebenan rumorte Leila mit ihrem Fohlen.
Schucks Pferde fanden den Weg zurück auf die Insel, sie waren bis nach Godshorn geirrt, wo sie schließlich erschöpft auf dem Grundstück des Müllkutschers Wagner anhielten. Dessen Pferde hatten sie angelockt. Wagner jedenfalls machte nicht viel Federlesens, holte die beiden fremden Tiere herein und versorgte sie. Auf die Idee, Schuck oder Hanno anzurufen, kam er allerdings nicht, so daß sich die Geschichte erst zwei Tage später aufklären sollte.
Denvers altes Herz überstand die Krise nur mit Mühe. Jeden Tag flößte ihm Hanno mit einem Tropf Antibiotika ein, bald zusätzliche Nährstoffe. Geduldig stand der Wallach im Stroh, die Augen unverwandt auf den Arzt gerichtet.
»Von dir kann man’ne Menge lernen, Junge!« brummte Willem, der es haßte, wenn er gerührt war.
Von Mady und Jörg sah und hörte man nichts. Malte verschwand, wahrscheinlich auf die große Insel, wo sich für einen wie ihn immer ein Unterschlupf fand. Die Kinder fragten eine Weile nach ihm, dann hörte auch das auf.
Anne lüftete das Ladesteinhaus, als die ersten Märzsonnenstrahlen die Bäume wachkitzelten. Noch vor Ostern würde die Saison beginnen, käme der erste Schriftsteller zu Gast und unterhielte die ersten Besucher und interessierte Einheimische mit einer Lesung. Verwundert stellte Julia fest, daß Anne ein wenig aufgeregt war.
»Krüger kommt jedes Jahr, weißt du!« sagte sie, als sei das Erklärung genug. Ihre Augen leuchteten.
Blau blühte das Meer auf. Die Sonne hatte früh begonnen, die Inseln zu wärmen. Schon kämpfte sich junges Gras durch den Morast, zu dem der auftauende Boden geworden war. In der Sandheide reckten Schlängelschmiele und Sumpfsimsen erste hauchzarte Zweige Zentimeter nur über den Boden. Bis sie blühten, bis sämtliche Süßgräser und Weiden sich erholt und stolz aufgerichtet hätten, würden noch Monate vergehen. Der Frühling war hier erst die Zeit der Hoffnungen, der kleinen Erwartungen, der Andeutungen in Heide und Föhrenwald. Auch die Vögel ließen noch eine Weile auf sich warten. Die Insel, diese uralte Schildkröte, überzog ihren Rücken zum April hin lediglich mit hauchzartem Grün. Die Steilküste unterhalb des Föhrenwaldes wurde wieder begehbar, die Inselbewohner inspizierten die Schäden des Winters. Rauh reinigte der Wind die großen Steine am Meer von festhängenden Algen und Muscheln, weckte grob die Dünen auf.
Und dann starb Hilda.
Mitten im Frühling, gerade, als die Strandkörbe wieder ins Freie getragen wurden zur großen Reinigung vor der Saison, starb Hilda. Die strahlende, die leuchtende Hilda. Hilda brachte sich um. Sie war übers Wochenende fort gewesen, wie immer wußte man nicht recht, warum und wohin, und sie hatte eine der Fähren genommen, die direkt vom Festland zurück auf die Insel fuhren. Bei sich hatte sie einige Ampullen Gift gehabt - ein Narkosemittel, das Hanno benutzte, um alte Pferde einzuschläfern. Sie hatte sich eine Spritze gesetzt, ganz profan, auf der Damentoilette der Fähre, und dort war sie gefunden worden, als den Angestellten die verschlossene Kabinentür aufgefallen war, eine halbe Stunde nach der Ankunft in Stiftsdorf. Sie war wie stets elegant gekleidet und trug ihre gelben Reithandschuhe. Einen Brief, eine Notiz, irgendeine Erklärung hinterließ
sie nicht. Die junge Maushaarige wußte zu berichten, daß Hilda nach Berlin hatte reisen wollen, um sich mit den drei Karierten zu treffen, aber erst, als Hanno sich anschickte, ihre Papiere zu ordnen, kam Licht in die Sache. Hilda hatte bei Misburg, Mayer und Partner investiert, eine Menge Geld war das gewesen, ihre gesamten Ersparnisse. Und die drei waren fort. Waren verschwunden, ohne eine Adresse zu hinterlassen, und die, die sie in Berlin angegeben hatten, die existierte nicht.
Sie hatten sie betrogen, und Hilda hatte alles verloren.
Hanno brauchte ein halbes Jahr, bis er an etwas anderes denken konnte. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft dauerten
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