Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Lucien saß auf einem Dach gegenüber der Sternwarte, ein dunkler Umriss vor dem ewigen Nachthimmel. Der Alb lehnte am Kamin, hatte ein Bein an die Brust gezogen, das andere entspannt ausgestreckt und rauchte Pfeife. Von dort oben hatte er einen ausgezeichneten Blick auf Liams Tür. Es war nicht möglich, in das Seelenhaus hineinzukommen, ohne dass er es bemerkte. Jackon musste ihn irgendwie weglocken oder wenigstens lange genug ablenken, dass er ungesehen zur Tür kam. Nur wie? Lucien besaß scharfe Augen und Ohren und war überaus wachsam. Jackon musste es so anstellen, dass der Alb keinen Verdacht schöpfte.
Er zog den Kopf ein und dachte konzentriert nach. Vielleicht konnte er Lucien überlisten, indem er von hier, wo er stand, in die Sternwarte sprang. Aber so etwas hatte er noch nie versucht. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt möglich war.
Plötzlich kam ein Bote angeflogen. Das Geschöpf schwirrte mit summenden Flügeln um ihn herum und streckte neugierig den Rüssel nach ihm aus. Verärgert über die Störung jagte er es weg. Der Bote schoss nach oben und ließ sich auf der Dachkante nieder. »Mach deine Arbeit, und hör auf, mich so anzuglotzen«, murmelte Jackon, doch das Wesen dachte gar nicht daran, weiterzufliegen.
Das brachte ihn auf eine Idee. Er nutzte die restliche Traumsubstanz, die er in sich trug, um ein gutes Dutzend kleiner Träume zu erschaffen, denen er das Aussehen geflügelter Boten gab. Kurz darauf saß ein ganzer Schwarm der moskitoartigen Wesen vor ihm. Jackon war zufrieden mit dem Ergebnis – nichts unterschied die Träume von echten Boten. Kraft seines Willens ließ er sie aufsteigen und über die Dächer fliegen.
In der ganzen Stadt wimmelte es von Boten, die sich merkwürdig benahmen, seit die Alben fort waren. Auch Lucien musste das inzwischen aufgefallen sein. Mit etwas Glück schob er das Verhalten des Schwarms, der sich ihm näherte, auf das Durcheinander im Traumland und dachte sich nichts dabei.
Jackon befahl seinen Träumen, anzugreifen. Die Wesen stürzten sich auf Lucien, der erschrocken aufsprang und um sich schlug, bevor er in einer summenden Wolke aus Flügeln und Insektenleibern verschwand. Im gleichen Moment sprang Jackon zur Sternwarte, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Träume umfingen ihn. Er bahnte sich einen Weg durch die wispernden Bilder und spähte aus dem Fenster.
Seine Boten konnten Lucien nichts anhaben, aber es lag auch gar nicht in seiner Absicht, dem Alb zu schaden. Jackon gab ihnen den Befehl, sich zurückzuziehen. Lucien blickte ihnen wütend nach, strich sein Wams glatt und hob seine Pfeife auf.
Jackon atmete auf. Das Ablenkungsmanöver war geglückt.
Dann jedoch kletterte der Alb vom Dach und kam auf die Sternwarte zu. Jackon begriff, dass er das Ausmaß von Luciens Vorsicht unterschätzt hatte. Hastig versteckte er sich hinter einer Ecke, wo das Gewebe von Liams Träumen besonders dicht war.
Mit gerunzelter Stirn blickte Lucien durch ein Fenster herein. Jackon machte sich bereit, notfalls mit einem Sprung zu fliehen, falls der Alb auf die Idee kam, das Seelenhaus zu durchsuchen. Doch Lucien gelangte offenbar zu der Überzeugung, alles sei in Ordnung, und kehrte zu seinem Beobachtungsposten zurück.
Jackon rührte sich nicht von der Stelle. Erst als der Alb wieder auf dem Dach saß und seine Pfeife anzündete, wagte er sich aus seinem Versteck hervor und machte sich auf die Suche nach Liam.
Der Blonde hatte wieder einen Albtraum. Er rannte einen endlosen Korridor entlang und folgte einer Gestalt, die sich immer weiter von ihm entfernte. »Vater!«, rief er. »Vater, so warte doch!«
Jackon blieb außerhalb des Korridors stehen, damit Liam ihn nicht sehen konnte. Für ihn hingegen waren die Wände halb durchsichtig, sodass er das Geschehen mühelos verfolgen konnte.
Sollte er Liam ansprechen und ihn einfach fragen, wo er sich in der Wachwelt versteckte? Nein – die Gefahr, dass Liam misstrauisch wurde oder vor Schreck aufwachte, war zu groß. Er musste sich etwas einfallen lassen.
Sein Blick wanderte zu Liams Vater. Fellyn Satander war ein mittelgroßer Mann mit kurzem blondem Haar, unrasierten Wangen und sanften Augen. Er sah gar nicht wie ein Aufrührer und Verräter aus. Mit ausdrucksloser Miene schritt er den Korridor entlang. Er ging viel langsamer als Liam, doch wie so oft in der Welt des Schlafs verhinderte eine rätselhafte Kraft, dass der Träumende das Ziel seiner Sehnsüchte erreichte, mochte er sich noch so
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