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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Wildnis vorgedrungen bin und wie lange ich schon immer tiefer und tiefer in den Wald gehe, als ich feststelle, dass ich getroffen wurde. Mindestens ein Aufseher muss mich erwischt haben, während ich den Zaun hochgeklettert bin. Eine Kugel hat mich seitlich gestreift, direkt unter der Achselhöhle, und mein T-Shirt ist feucht vom Blut. Doch ich habe Glück gehabt, die Wunde ist nicht tief. Dennoch macht der Anblick des vielen Blutes, der fehlenden Haut alles so real: diesen neuen Ort, diese monströsen, undurchdringlichen Pflanzen überall, alles, was geschehen ist und was ich zurückgelassen habe.
    Was mir genommen wurde.
    Ich habe nichts im Magen, übergebe mich aber trotzdem. Ich würge Luft hervor und spucke Galle auf die glatten, glänzenden Blätter um mich herum. Über mir zwitschern Vögel. Ein Tier, das sich neugierig genähert hat, huscht schnell wieder ins Unterholz.
    Denk nach, denk nach! Alex. Denk nach, was würde Alex tun?
    Alex ist hier, genau neben dir. Stell es dir vor.
    Ich ziehe mein T-Shirt aus, reiße den Saum ab und binde mir das sauberste Stück fest um die Brust, damit es auf die Wunde drückt und die Blutung stoppt. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder wo ich hingehe. Mein einziger Gedanke ist: in Bewegung bleiben, weitergehen, tiefer und tiefer, weg von den Zäunen und der Welt aus Hunden, Waffen und …
    Alex.
    Nein. Alex ist hier. Du musst es dir nur vorstellen.
    Ich gehe Schritt für Schritt, kämpfe gegen Dornen, Bienen und andere Insekten an; breche dicke, feste Äste ab, die im Weg sind; inmitten von Mückenschwärmen und Nebelschwaden. Irgendwann komme ich an einen Fluss. Ich bin so schwach, dass mich die Strömung beinahe mitreißt. Nachts kauere ich in heftig peitschendem, kaltem Regen zwischen den Wurzeln einer riesigen Eiche, während um mich herum unsichtbare Tiere in der Dunkelheit kreischen, schnaufen und rascheln. Ich habe Angst davor zu schlafen. Wenn ich einschlafe, werde ich sterben.
    Die neue Lena wird nicht auf einmal geboren.
    Sondern Schritt für Schritt – und dann Zentimeter für Zentimeter.
    Während sie über den Boden kriecht, ihr Inneres sich zu Staub zusammenzieht, im Mund den Geschmack nach Rauch.
    Fingernagel für Fingernagel, wie ein Wurm.
    So kommt sie zur Welt, die neue Lena.
    Als ich nicht mehr weiterkann, noch nicht mal einen Zentimeter, lege ich den Kopf auf die Erde und warte auf den Tod. Ich bin zu erschöpft, um Angst zu haben. Über mir ist Schwärze und um mich herum auch, und die Geräusche des Waldes bilden eine Symphonie, die mich aus dieser Welt begleitet. Ich bin bereits bei meiner Beerdigung. Ich werde in ein schmales, dunkles Loch hinabgelassen, und Tante Carol ist da und Hana und meine Mutter und Schwester und sogar mein längst verstorbener Vater. Sie sehen alle zu, wie mein Leichnam ins Grab gesenkt wird, und sie singen.
    Ich stecke in einem dunklen Tunnel voller Nebel und habe keine Angst.
    Auf der anderen Seite wartet Alex auf mich; Alex steht da und lächelt, in Sonnenlicht getaucht.
    Alex streckt die Arme nach mir aus und ruft …
    Hey. Hey.
    Wach auf.
    »Hey. Wach auf. Komm schon, los, komm.«
    Die Stimme holt mich aus dem Tunnel zurück und einen Augenblick bin ich furchtbar enttäuscht, als ich die Augen aufschlage und nicht Alex’ Gesicht sehe, sondern ein anderes, kantig und fremd. Ich kann nicht denken. Die Welt ist auseinandergefallen. Schwarze Haare, eine spitze Nase, hellgrüne Augen – Puzzleteile, die ich nicht zusammensetzen kann.
    »Komm schon, alles ist gut, bleib bei mir. Bram, wo zum Teufel bleibt das Wasser?«
    Eine Hand in meinem Nacken und dann plötzlich die Rettung. Ein Gefühl wie Eis und eine Flüssigkeit: Wasser füllt meinen Mund und meine Kehle aus, fließt mir übers Kinn, spült den Staub weg, den Geschmack nach Feuer. Erst huste ich, würge, muss fast weinen. Dann schlucke ich, trinke, sauge, wobei die Hand die ganze Zeit in meinem Nacken liegt und die Stimme mir Mut zuflüstert: »Gut so. Trink, so viel du willst. Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«
    Schwarze Haare, offen, die ein Zelt um mich herum bilden: eine Frau. Nein, ein Mädchen – ein Mädchen mit einem schmalen, angespannten Mund, Falten in den Augenwinkeln und Händen so rau wie Weidengeflecht, so groß wie Körbe. Ich denke: Danke . Ich denke: Mutter .
    »Du bist in Sicherheit. Es ist gut. Alles wird gut.«
    So ist es ja schließlich mit Neugeborenen: Sie werden von jemandem im Arm gehalten, saugend, hilflos.
    Anschließend

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