Die Rose der Highlands
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Prolog
A n seinem elften Geburtstag küsste er Leitis MacRae. Ihre Reaktion war eine schallende Ohrfeige.
Ian rieb sich die Wange und schoss einen Blick in die Runde, um zu sehen, ob jemand Zeuge der Szene gewesen war.
Glücklicherweise lag der Innenhof von Gilmuir Castle verlassen da. Kein Stallknecht stand mit einem Pferd auf den glitzernden, weißen Pflastersteinen. Keiner der Lastkarren, die täglich aus dem Tal über die Landbrücke kamen, wartete darauf, entladen zu werden. Keine Dienstmagd, kein Koch oder Schmied hatte sich eingefunden, um dem Laird ein Anliegen vorzutragen. Das schwere, eisenbeschlagene Eichentor war geschlossen, kein Gesicht spähte belustigt um die Ecke.
Ian atmete auf, während er sicherheitshalber einen Schritt Abstand von Leitis nahm.
»Tu das nie wieder!«, schrie sie und starrte ihn feindselig an, während sie sich mit dem Handrücken heftig den Mund abwischte.
»Es war doch nur ein Kuss«, sagte Ian, doch er begriff, dass es ein Fehler gewesen war, sich zu dieser Kühnheit hinreißen zu lassen. Aber er hatte schon seit Tagen davon geträumt, Leitis zu küssen.
Sie war anders als alle Mädchen, die er kennengelernt hatte. Nicht dass er viele auf Brandidge Hall in England, wo er den größten Teil des Jahres lebte, kennenlernte. Aber jetzt war Sommer, und er war in Schottland.
Er kam jedes Jahr mit seiner Mutter in die Highlands, und zwei herrliche Monate lang ermahnte ihn niemand, seinen Rock zurechtzurücken oder seine Weste zuzuknöpfen. Sein Hauslehrer wurde in England zurückgelassen und Ian nicht ein einziges Mal gescholten, dass er sich ungebärdig aufführe. Seine Mutter lachte nur, wenn sie ihn durch die Festung, die das Heim seines Großvaters war, rennen sah, als wüsste sie um das Freiheitsgefühl, das in seinen Adern tanzte.
Auch sein Name war hier ein anderer. Ihn hatte er bekommen, als er mit sechs Jahren zum ersten Mal in Schottland weilte.
»Ian ist die gälische Form von John, und dein zweiter Name ist doch John, nicht wahr?«, hatte sein Großvater ihn gefragt.
Ian nickte. »Alec John Landers, Sir.«
»Ein rein englischer Name.« Der Großvater runzelte die Stirn. Er hatte buschige Brauen und ein Gesicht so wettergegerbt wie die Felsen von Gilmuir. »Hier wirst du Ian MacRae heißen. Ich will den Namen Landers nicht hören.«
Und so geschah es. Niemand in Schottland erfuhr je seinen englischen Namen, ein Zeugnis der Macht seines Großvaters, des Lairds. Was Niall MacRae verfügte, war Gesetz.
Ian fragte sich manchmal, was zu der Feindschaft zwischen dem schottischen Feudalherrn und seinem Vater geführt hatte. Seine Eltern waren sich in Frankreich begegnet. Seine Mutter hatte dort Verwandte besucht, und sein Vater befand sich auf seiner Kavalierstour. Moira MacRae hatte den Grafen, den sie heiratete, nur um eines gebeten – dass die Kinder, die sie vielleicht bekommen würden, ihr schottisches Erbteil aus erster Hand kennenlernen durften.
Ian war ihr einziges Kind, und der Vater erlaubte ihm die jährliche Reise nach Schottland. Jeden Sommer kamen Ian und seine Mutter nach Gilmuir, und jedes Mal, wenn der Ben Haeglish in der Ferne auftauchte, spürte er, wie er, Alec, sich veränderte. Wenn die Kutsche endlich vor der alten Burg hielt, war seine Jacke bereits zur Hälfte aufgeknöpft und sein Herz klopfte vor Freude auf das Wiedersehen mit seinen Freunden Fergus und James. In den letzten beiden Jahren hatte er sich allerdings genauso darauf gefreut, Leitis wiederzusehen.
Sie verstand sich aufs Fischen wie die Jungen, kannte die Wälder um Gilmuir besser als sie, hatte kein Angst vor Käfern und lief schneller als sie.
»Es war doch nur ein Kuss«, sagte er noch einmal und fragte sich, ob sie ihm wohl jemals vergeben würde.
»Du hättest das nicht tun dürfen!«, schrie sie. »Es war eklig!« Damit ließ sie ihn stehen und stampfte wütend davon. Hilflos schaute er ihr nach.
»Sie hat wirklich Temperament, unsere Schwester«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Ian spürte sein Gesicht warm werden, als er über seine Schulter schaute. Fergus und James standen dort, beide mit ernsten Gesichtern. James war zwei Jahre älter als Fergus, aber kleiner als er. Ihre Züge verrieten, dass sie Brüder waren. Auch sie hatten rote Haare, allerdings dunklere als Leitis.
»Wie konntest du sie nur küssen?«, fragte Fergus verwundert. »Es ist doch Leitis.«
»Zürnst du mir?« Ian spreizte vorsichtshalber die Beine, wie sein Großvater es ihm beigebracht
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