Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
Vom Netzwerk:
1
    In der Nacht des Seltsamen Vogels sahen viele Leute aus Sidderton (und einige aus noch geringerer Entfernung) ein grelles Licht über dem Sidderford Moor. Aber in Sidderford sah es keiner, denn die meisten Leute in Sidderford waren schon zu Bett gegangen.
    Den ganzen Tag über war der Wind stärker geworden, so daß die Lerchen im Moor dann und wann in der Nähe des Bodens zwitscherten oder sich emporschwangen, nur um wie Blätter vor dem Wind hergetrieben zu werden.
    Die Sonne ging in blutroten Wolkenbergen unter, der Mond war verhüllt. Das grelle Licht, so wird erzählt, war golden wie ein Strahl, der aus dem Himmel dringt, kein gleichmäßiger Schein, sondern überall durchbrochen von sich krümmenden Blitzen so als würden Schwerter geschwungen. Es dauerte nur einen Augenblick und ließ dann die Nacht dunkel und geheimnisvoll zurück. In der Zeitschrift
    „Nature“ erschienen Briefe darüber und eine grobe Skizze, die niemand für sehr treffend hielt. (Auf Seite 42 des 260. Bandes jener Zeitschrift können Sie die Skizze, die keine Ähnlichkeit mit dem grellen Licht aufweist, betrachten.) Keiner in Sidderford sah das Licht, aber Annie, Hooker Durgans Frau, lag wach und sah seinen Widerschein – ein flackerndes goldenes Züngeln –, der über die Wand glitt.
    Sie war auch eine von denen, die den Klang hörten. Die anderen, die ihn hörten, waren Lumpy Durgan, der Schwachsinnige, und Amorys Mutter. Sie sagten, es sei ein Klang gewesen, der dem Singen von Kindern und dem Vibrieren von Harfensaiten glich, getragen von einer Flut von Tönen, wie sie zuweilen einer Orgel entströmen. Er begann und endete wie das Öffnen und Schließen einer Tür, und vorher und nachher hörten sie nichts als das Heulen des Nachtwinds über dem Moor und das Geräusch in den Höhlen unterhalb der Sidderford Klippe. Amorys Mutter sagte, sie hätte am liebsten geweint, als sie ihn hörte; Lumpy hingegen tat es nur leid, daß er ihn nicht länger hören konnte.
    Das ist alles, was man Ihnen von dem Licht über dem Sidderford Moor und der angeblichen Musik erzählen kann. Und ob dies alles in einem tatsächlichen Zusammenhang mit dem Seltsamen Vogel steht, dessen Geschichte folgt, ist mehr als ich sagen kann. Aber ich habe es hier zu Papier gebracht, aus Gründen, die im Verlauf der Erzählung noch deutlicher zu Tage treten werden.

2
    Sandy Bright kam gerade die Straße von Spinners Geschäft herunter und trug eine Speckseite, die er im Tausch für eine Uhr bekommen hatte. Er sah nichts von dem Licht, aber er hörte und sah den Seltsamen Vogel. Er hörte plötzlich ein Flattern und eine Stimme, die der einer wehklagenden Frau glich, und da er ein ängstlicher Mensch ist und ganz allein war, war er sogleich beunruhigt, und als er sich umwandte (am ganzen Körper zitternd), sah er etwas Großes und Schwarzes, das sich von der trüben Dunkelheit der Zedern oben am Hügel abhob. Es schien direkt auf ihn herunterzukommen. Unverzüglich ließ er den Speck fallen und rannte los, nur um kopfüber hinzufallen.
    Er versuchte vergeblich – in solchem Gemütszustand war er –, sich an den Beginn des Vaterunsers zu erinnern. Der Seltsame Vogel flatterte über ihm – größer als er selbst, mit einer riesigen Flügelspannweite, und, wie ihm schien, schwarz. Er schrie und glaubte sich verloren. Dann flog dieses Etwas an ihm vorbei, segelte den Hügel hinunter, schwebte über das Pfarrhaus hinweg und verschwand in dem nebligen Tal in Richtung Sidderford.

    Und Sandy Bright blieb eine Ewigkeit auf seinem Bauch liegen und starrte in die Finsternis, dem Seltsamen Vogel nach. Endlich konnte er sich aufknien und begann dem Himmel für die barmherzige Rettung zu danken, während er den Hügel hinunterblickte. Schließlich ging er weiter ins Dorf hinab, sprach laut und bekannte im Gehen seine Sünden, aus Furcht, der Seltsame Vogel könnte zurückkommen.
    Alle, die ihn hörten, glaubten, er sei betrunken. Aber von dieser Nacht an war er ein anderer Mensch: Er hörte auf zu trinken und das Finanzamt dadurch zu betrügen, daß er ohne Lizenz Silberschmuck verkaufte. Und die Speckseite lag oben auf dem Hügel, bis sie der Händler aus Portburdock am Morgen fand.
    Der nächste, der den Seltsamen Vogel sah, war der Schreiber eines Anwalts in Iping Hanger, der vor dem Frühstück den Hügel hinaufging, um den Sonnenaufgang zu sehen. Von einigen kleinen Wolkenfetzen abgesehen, die sich auflösten, war der Himmel über Nacht reingefegt worden. Zuerst dachte

Weitere Kostenlose Bücher